Die Schule muß mehrsprachig sein

Wie könnte eine Schule aussehen, die ernsthaft berücksichtigt, dass an ihr SchülerInnen aus verschiedenen Ländern lernen?1

Manfred Huth
In: pädextra 12/1993, S. 9-18

Wer sich zur Schule im Einwanderungsland, zur Bildung und Erziehung für alle (und nicht nur für Deutsche) Gedanken macht, muß vorher bedacht werden die allgemeine Situation von MigrantInnen und Flüchtlingen in der BRD:
Es existieren Sondergesetze für diese Menschen, eine rechtliche Gleichstellung mit den Menschen der Mehrheitsgesellschaft gibt es nicht.
Alle Ansätze zur interkulturellen oder multikulturellen Pädagogik akzeptieren mehr oder weniger stillschweigend diese Tatsache und können meiner Meinung nach deshalb nur Stückwerk bleiben. Die multikulturelle Schule setzt voraus eine antirassistische Politik, die allen antidemokratischen Tendenzen konsequent entgegentritt.
Interkulturelle Erziehung wird seit gut 20 Jahren von ErziehungswissenschaftlerInnen diskutiert als Reaktion auf die Tatsache, daß die BRD ein Einwanderungsland und die bundesrepublikanische Gesellschaft multikulturell geworden ist. Die Inhalte der LehrerInnenaus- und -weiterbildung haben sich dagegen kaum geändert und sind noch immer nationalstaatlich geprägt. Es herrscht in der BRD eine monokulturelle Bildungsideologie und wird offiziell aufrechterhalten.
"Gegen die reale Entwicklung hin zur multikulturellen und multilingualen Schule hält unsere Bildungspolitik am nationalstaatlichen Charakter des Bildungswesens fest. Die Schule trägt damit de facto zur sozialen und kulturellen Diskriminierung von Minderheiten bei. Deutlich wird das an der geringen Zahl bei uns eingestellter ausländischer Lehrerinnen und Lehrer. Deutlich wird dies auch am nach wie vor unbefriedigenden Status des muttersprachlichen Unterrichts"2, einem Recht, das verbunden ist mit dem Recht des einzelnen auf die Einheit der Familie, auf Bildung und auf Beteiligung am kulturellen Leben seiner jeweiligen Gemeinschaft.

"Es handelt sich bei der Bedeutung für den einzelnen und bei daraus für den Staat resultierenden Verpflichtung um ein Recht, das auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23.5.1949 durch mehrere Artikel des 1. Teils (Grundrechte) abgesichert ist: Art.1 (Menschenwürde und Menschenrechte), Art. 2 (Persönlichkeitsrechte), Art. 3 (Gleichheitsgrundsatz, Gleichberechtigung), Art. 6 (Ehe und Familie,...) und Art. 7 (Schulwesen)."3

Internationale Abkommen legen das Recht auf Bildung bzw. Teilhabe an der eigenen Kultur und das besondere Mitbestimmungsrecht der Eltern fest, so die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Art.26), der Internat. Pakt über wirtschaftliche, soz. u. kulturelle Rechte (Art.13), das Zusatzprotokoll zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte (Art.2).In der Schlußakte der KSZE vom 1.8.75, Korb 3, Abschn.4, wird ausdrücklich für WanderarbeiterInnen und ihre Familien gefordert, "daß sie ... in ihrer eigenen Sprache, Kultur, Geschichte und Geographie unterrichtet werden".
Das steht auch im Artikel 3 der Richtlinie über die schulische Betreuung der Kinder von WanderarbeiterInnen des Rates der Europäischen Gemeinschaften v. 25.7.1977:

"Die Mitgliedstaaten treffen nach Maßgabe ihrer innerstaatlichen Verhältnisse und Rechtssysteme in Zusammenarbeit mit den Herkunftsstaaten geeignete Maßnahmen, um unter Koordinierung mit dem Regelunterricht die Unterweisung der in Artikel 1 genannten Kinder in der Muttersprache und der heimatlichen Landeskunde zu fördern."

Mehrsprachigkeit wird in unserer Gesellschaft nicht gefördert
Da Richtlinien der EG ihnen entgegenstehende nationale Gesetze außer Kraft setzen, dürfte es keinen Konsulatsunterricht in der Muttersprache geben, der außer in Hessen und NRW in allen Bundesländern der BRD die Regel ist. Mehrsprachigkeit unserer Gesellschaft wird weder anerkannt noch gefördert. Modelle zweisprachiger Erziehung werden kaum erprobt geschweige denn die Ergebnisse bereits gelaufener Modelle werden nicht in die pädagogische Praxis übernommen.
In der Schule zeigt sich das daran, wie wenig weit die Forderung nach muttersprachlichem Unterricht umgesetzt ist: in dieser Hinsicht ist die BRD ein entwicklungswürdiges Land, d.h. es gibt noch viel zu tun auf diesem Gebiet. Integration ohne Aufnahme der Muttersprache in die Regelschule kann nicht gelingen. Es sei denn, mensch versteht unter Integration in Wirklichkeit Assimilation an die Mehrheitsgesellschaft unter Aufgabe der eigenen kulturellen und ethnischen Identität.

Eine multikulturelle Schule geht aus von Zwei- und Mehrsprachigkeit und akzeptiert und fördert sie. Tut sie es nicht, ist sie monokulturell, euro- oder in der BRD germanozentristisch und rassistisch. Wird die Muttersprache von Anfang an gefördert kommt es zur Entwicklung der kognitiv-akademische Sprachfähigkeit, braucht diese nicht neu entwickelt werden in der Zweitsprache, sondern baut auf den muttersprachlichen Fähigkeiten auf. D.h. ist die kognitiv-akademische Sprachfähigkeit in der Muttersprache verhindert oder nicht voll ausgebildet, kann sie sich auch in der Zweitsprache nicht voll entwickeln (Semilinguismus).
Semilinguismus oder Halbsprachigkeit ist ein Grund für Schulversagen. Halbsprachigkeit meint doppelte Sprachlosigkeit hinsichtlich der Funktion der Sprache für den Wissenserwerb. Besonders bemerkbar macht sich das auf weiterführenden Schulen, die mehr auf den kognitiv-akademischen Sprachfähigkeiten aufbauen: die interpersonelle (umgangssprachliche) Kommunikationsfähigkeit reicht nicht mehr aus, weil Abstraktionsfähigkeit gefordert ist.

Das einzige europäische Land, das dieser Forderung konsequent nachkommt ist Schweden. 1985 beschloß der schwedische Reichstag, daß aller Unterricht in allen Schulformen von einer kulturellen Annäherung gekennzeichnet sein soll. Mindestens 2 Wochenstunden in der Familiensprache werden jedem EinwanderInnenkind zuerkannt. Die Eltern werden aufgefordert, dieses Recht für ihr Kind auch zu beanspruchen. Es werden über 60 Heimatsprachen unterrichtet - auch kurdisch. Mitunter werden 30 verschiedene Sprachen an den Schulen unterrichtet. SchülerInnen erhalten individuell zugeschneiderte Stundenpläne, wenn es nötig ist.
MutterprachenlehrerInnen werden angeworben und in Schweden ausgebildet durch migrante DozentInnen. Sie sind den schwedischen KollegInnen völlig gleichgestellt.
Das Beispiel zeigt, daß interkulturelle Erziehung zu Völkerverständigung und Frieden dann möglich ist, wenn auch der politische Wille und somit auch die Mittel dazu vorhanden sind. Wirklich interkultureller Unterricht kann somit an Schulen der BRD nicht stattfinden. Was gemeinhin so bezeichnet wird, sind gutgemeinte Ansätze, um die Situation für ImmigrantInnenkinder an der deutschen Schule wenigstens etwas erträglicher zu machen.

Diese Ansätze sind keineswegs kultusbürokratischen Anstrengungen zu verdanken, sondern sie sind weitgehend auf die Initiative von LehrerInnen(gruppen) zurückzuführen, die sich autodidaktisch zu multikulturellen PädagogInnen qualifiziert haben und sich ihre Unterrichtsmaterialien selber erstellen. Dazu ist die multikulturelle LehrerIn gezwungen, denn multikulturelle Handlungsleitlinien für ihren Unterricht in Form von multikulturellen Richtlinien und Lehrplänen sowie multikulturelle Lehr- und Lernbücher gibt es kaum.
Zwar fühlen sich alle Kultusbürokratien zu Zugeständnissen gezwungen, denn nicht nur in Hamburg besteht eine Diskrepanz zwischen Richtlinien, die Ansatzpunkte für einen multikulturellen Unterricht enthalten, und den Lehrplänen, die diesen Aspekt höchstens noch in den Präambeln formulieren, aber bei den konkreten Themen und didaktisch-methodischen Hinweisen und Hilfen absolut nicht aufgreifen und umsetzen.
Die deutsche monokulturelle Schule erzieht somit de facto zum Rassismus gegenüber MigrantInnen und Flüchtlingen, Göpfert (1985) spricht von "Ausländerfeindlichkeit durch Unterricht".

Ich fasse zusammen:

  1. Ohne daß die gegenwärtigen rechtlichen, politischen und sozialen Benachteiligungen der MigrantInnen und Flüchtlinge aufgehoben werden bleiben schulische Konzepte, auch unter veränderten Bedingungen, in ihren Möglichkeiten und Perspektiven äußerst begrenzt und defizitär.

  2. Ohne die konsequente Einlösung der bildungspolitischen Forderung nach muttersprachlichem Unterricht bleiben auch interkulturell überarbeitete Curricula und Schullernbücher nur Stückwerk.

  3. Zur Erarbeitung und Umsetzung veränderter Curricula und Schulbücher sind multikulturelle und antirassistische PädagogInnen und LehrerInnen nötig, d.h. die Curricula der Aus- und Weiterbildung von PädagogInnen müssen ebenfalls revidiert werden.

Curricula und Schullernbücher: Situation von MigrantInnen wird kaum berücksichtigt
Es soll im folgenden untersucht werden, wie Curricula und auf ihnen aufbauende Schulbücher multikulturellen Unterricht geradezu verhindern und damit vorhandenes ethnozentristisches und rassistisches Denken und Handeln geradezu verstärken.
Curricula
Analysen von Lehrplänen und Schulbüchern im Hinblick auf multikulturellen Unterricht in einer multikulturellen Schule für alle sind bislang nicht sehr häufig durchgeführt worden. Auch gibt es wenig konkrete Überlegungen, wie denn z.B. Lehrpläne einzelner Fächer aussehen sollten bzw. was z.B. ein Geschichtsbuch thematisch, sprachlich und an Bild- und Quellenmaterial enthalten soll.
Zwar betonen nahezu alle AutorInnen von Büchern zur Interkulturellen Erziehung die Wichtigkeit veränderter Curricula und Schulbücher, geben jedoch nur selten anschauliche und faßbare Hinweise, mit denen sich eine Veränderung realisieren ließe.
Tatsache aber ist, darin stimmen alle Untersuchungen überein: Curricula und Schulbücher berücksichtigen kaum oder gar nicht die Situation der MigrantInnen und Flüchtlinge in der BRD. Sie berücksichtigen bei der Themen-, Text- und Medienauswahl kaum oder gar nicht die reale Situation in den Herkunftsländern.

Eine 1985 in Bayern von Göpfert durchgeführte Untersuchung ergibt, daß in den bayrischen Lehrplänen der Fächer Geschichte, Politik und Religion für die Hauptschule kaum Hinweise enthalten sind, die auf eine durch die multikulturell gewordene Gesellschaft bedingte veränderte bzw. erweiterte Sichtweise der CurriculummacherInnen schließen lassen4. Für den Geschichtsunterricht kommt Göpfert zu folgendem Urteil:

"Ziel des Geschichtsunterrichts ist es hierbei, daß Geschichte Stolz auf die eigne Nation, den eigenen Staat vermittelt, auf seine Leistungen und Kultur. ... Geschichte und Kultur anderer Staaten wird bei dieser Art von Geschichtsbetrachtung kein eigener Bildungswert zuerkannt." (Göpfert 1985, S. 123)

Kiper (1985) kommt bei einer Untersuchung von Richtlinien und Lehrplänen für den Sachunterricht zu ähnlichen Ergebnissen5: Bezüge zur Lebenssituation, zur Herkunft von MigrantInnen und zur Migrationsgeschichte sind äußerst selten.

Ursula Neuman (1986) stellt eine Diskrepanz zwischen den Hamburger Richtlinien und den Lehrplänen fest6. Lassen sich in den Richtlinien Vorgaben für interkulturellen Unterricht finden, werden in den Lehrplänen Chemie, Mathematik, Englisch und Kunst migrante SchülerInnen nicht erwähnt.
Im Lehrplan Sport gibt es zumindest Hinweise auf die Anwesenheit migranter SchülerInnen und deren möglicherweise anderen Moralvorstellungen.

Daß die Situation sich auch 8 Jahre später nicht entscheidend verändert hat, zeigt die ausführliche Stellungnahme von Annita Kalpaka und Ursula Neumann (1992) zum neuen Hamburger Lehrplan Politik für Gesamtschulen7. Sie kommen nach einer detaillierten Kritik aller im Lehrplan enthaltenen Themen zu dem Schluß, "daß sowohl den Autoren als auch den ErproberInnen und Erprobern entgangen zu sein scheint, daß der Lehrplan nicht nur für Kinder deutscher Nationalität geschrieben worden ist."(S.1)

"Der Lehrplan bestätigt eine Alltagssprache und ein Alltagsdenken, das pauschalisierend und stereotypisierend ist, auf dem rassistische Bilder basieren. Wir wollen den Autoren nicht Rassismus unterstellen, jedoch auf die Gefahr der Unterstützung rassistischer Grundstrukturen hinweisen: Die bestehen darin, bestimmten Gruppen Eigenschaften zuzuschreiben, die diese aufgrund ihrer herkunft hätten. Sie erscheinen als Resultat ihrer Abstammung, sind also "natürlich" und durch das Individuum nicht veränderbar (Naturalisierung sozialer Prozesse). Die Aufteilung zwischen "Ausländern" und "Deutschen" kann dieses Denken unterstützen, zudem im Lehrplan da, wo es möglich wäre, zwischen den beiden Gruppen zu unterscheiden, nicht unterschieden wird: als juristische oder Statuskategorie, daß "Ausländer" diejenigen sind, für die das Ausländergesetz gilt, und "Deutsche" diejenigen, die durch Abstammung alle Rechte in diesem Land haben, mögen sie z.B. als Aussiedler auch denselben sozialen und sprachlichen Hintergrund haben wie ein polnisches Kind. Da aber wo es sinnvoll wäre auf diese Kategorien einzugehen, schweigt der Lehrplan ...". (S.3)

Schullernbücher

Daß sich die Schulbücher an den Lehrplänen orientieren, ist klar, da die Verlage aus ökonomischen Gründen über die kultusbürokratischen Vorgaben nicht hinausgehen.
Das bestätigen mehrere Untersuchungen8. Einige übereinstimmende Ergebnisse durchgeführter Untersuchungen:

Eine 1987/88 durchgeführte Untersuchung der in NRW zugelassenen Grundschullesebücher9 ergibt:

Das multikulturelle, mehrsprachige Lesebuch, das die multikulturelle Realität der BRD widerspiegelt, das Texte und Bilder für alle SchülerInnen enthält, gibt es auf deutschen kultusbürokratischen Lernbuchlisten nicht.

Geschichtslernbücher
Der Geschichtsdidaktiker Borries (1990) urteilt: In Geschichtslernbüchern "geschieht wenig für die Einübung von Fremdverstehen und Toleranz gegenüber anderen Wertsystemen und kulturellen Traditionen"10. Die Geschichte Lateinamerikas z.B. wird reduziert auf die Zeit um 1500, die Zeit davor und danach bleibt außen vor als handele es sich bei den LateinamerikanerInnen um geschichtslose Wesen. Das Erkennen von Zusammenhänge und dialogisches Denken und Lernen wird dadurch geradezu verhindert. Das geschichtliche Selbstverständnis anderer Völker kommt in deutschen Geschichtsbüchern nicht vor. Eine Untersuchung von neueren (1986-1988) Geschichtsbüchern11 über das enthaltene Lateinamerikabild stellt fest:

Was folgt daraus?
Die Holländer Willem Fase und Sjaak Kroon stellen fest:

"Was die Inhalte des interkulturellen /antirassistischen Curriculums angeht, ist Vieles noch unklar. In der Diskussion wird von mehreren Seiten darauf hingewiesen, daß das Curriculum nicht als etwas Selbständiges gesehen werden darf. Eine solche Stellungnahme darf andererseits nicht dazu führen, daß die Diskussion über Themenwahl, Lehrmittel oder didaktische Arbeitsformen immer wieder hinausgeschoben wird. Als einen der wichtigsten Beiträge nennen wir hier die entwickelten Screening-Verfahren zur Untersuchung von Lehr- und Lernmittelnauf Ethnozentrismus, Voreingenommenheit, Stereotypisierung, Unterrepräsentanz ethnischer Gruppenund so weiter. Weiter können hier Vorschläge genannt werden zur Aufnahme in das Curriculum von expliziten Kenntnissen über Ethnizität, ethnische Unterschiede, die Geschichte der verschiedenen ethnischen Gruppenund die Wurzeln von Konzepten wie Ethnozentrismus, Vorurteil, Diskriminierung und Rassismus."12

Kriterien13 zur Erstellung von Curricula und Zulassung von Schullernbüchern:

  1. Lehrpläne und Lernbücher, in denen ethno-/eurozentristische und/oder nationale Perspektiven vorherrschen, müssen neu geschrieben werden bzw. nach den Maßgaben des kulturellen Pluralismus überarbeitet werden.

  2. Verharmlosende, diskriminierende und somit rassistische Darstellung z.B. geschichtlicher bzw. gesellschaftlicher Zusammenhänge, Ereignisse, Haltungen herrscht oft auch in den Büchern vor, die Migration aus historisch, gesellschaftlicher und ökonomischer Sicht zu behandeln vorgeben. Es ist also eine kritische Prüfung notwendig.

  3. Die Themen müssen sich an der tatsächlich vorhandenen ethnischen Vielfalt orientieren und sie angemessen wiederspiegeln14.

  4. Schulbücher müssen die Deutschkenntnisse von MigrantInnen und Flüchtlingen berücksichtigen, z.B. Glossare in den Muttersprachen, konzeptionell eingebaute Formen der Textentlastung. Zu entwickeln sind bilinguale bzw. multilinguale Schullernbücher wie z.B. das griechisch-deutsch-türkische Lesebuch Kalimerhaba15.

  5. Es muß den LehrplanmacherInnen gelingen, "interkulturelle Schlüsselsituationen ausländischer und deutscher Kinder zu identifizieren und zum Bezugspunkt der Entwicklung von Lerninhalten zu machen. Diese Vorgehensweise steht in Korrepondenz zur Pädagogik Paulo Freires. Einer solchen Bestimmung von Schlüsselsituationen gehen Versuche zur Aufklärung der Lebenswelt ausländischer Kinder und ihrer Familien voraus. Dabei werden Informationen zu Herkunft, Sozialisation und Lebensbedingungen ausländischer Kinder und ihrer Familien herangezogen, also Situationsrecherchen unternommen"16

  6. Curriculare Einbindung der Zusammenarbeit "mit "KulturträgerInnen" oder mit Institutionen und Menschen in diesen Institutionen aus anderen Kulturen als der deutschen. ... Das kann z.B. sein, daß man jemanden vorlesen oder Geschichten erzählen läßt, daß Musikinstrumente vorgestellt werden, das man zusammen kocht, das sind so die üblichen Dinge. Es sollte aber auch sein: Berichte über MigrantInnenschicksale, Ursachen für Migration aus eigenem Erleben, also das, was man im Geschichtsunterricht mit Zeitzeugen bezeichnet".17

  7. SchülerInnen müssen lernen, Anderssein zu akzeptieren bzw. das Andere anders sein zu lassen.

  8. Kulturen fremder Völker sind eigenständige Entwicklungen, die nicht entstanden sind, um der EuropäerIn zu gefallen oder zu mißfallen. Sie dienen den Menschen dazu, sich in ihrer Umwelt zu entfalten. Solche Entwicklungen müssen so dargestellt werden, daß sie die SchülerIn achten und erleben kann.

  9. Die Idee der Geschichtslosigkeit der Entwicklungsländer muß überwunden werden. Ihre Geschichte fängt nicht mit der "Entdeckung an. Der Begriff "Entdeckung" muß gerechterweise mit Eroberung, Unterwerfung, Eindringen etc. ersetzt werden.

  10. Es reicht nicht, Vorkommnisse bei uns und in der Dritten Welt als ungerecht zu empfinden. Die Frage nach den Ursachen und Zusammenhängen soll immer wieder gestellt werden.

  11. Ursachen und Wurzeln von Verarmung, Fehlentwicklung und Ausbeutung stehen in einem direkten Zusammenhang mit der wirtschaftlichen und politischen Situation der Industrieländer. Diese Verknüpfungen sollen in Curricula und Lehrmitteln deutlich werden. Dazu können vor allem auch Zeugnisse von Betroffenen in der Dritten Welt dienen.

  12. Die Versuche der Menschen der Dritten Welt, ihren (eigenen) Weg der Entwicklung selbst zu bestimmen und selbst dafür zu kämpfen soll in den Lehrmitteln weder verschwiegen, noch als Terrorismus abgetan werden.

  13. Entwicklung und Entwicklungshilfe darf nicht losgelöst von politischen und wirtschaftlichen, als reine - aber wenig glaubhafte - humanitäre Aufgabe dargestellt werden. ... Der Anspruch, daß jene, die Entwicklungshilfe leisten, auch den Weg der Entwicklung festlegen, ist ethnozentristisch.

  14. Die Beschäftigung mit fremden Welt- und Menschenbildern muß ein Hinterfragen der eigenen Lebensform zu lassen. (Lernen von anderen.)

Was sollte LehrerInnenfortbildung sofort in Angriff nehmen?

Was können LehrerInnen an ihrer Schule und in ihrem Kollegium verändern?19

Daraus folgt:
Wir als Kollegium beantragen über das IfL ein schulinternes Projektseminar über interkulturelles Lernen und antirassistischen Unterricht.

Sofortmaßnahmen20:

UNSER ZIEL SOLLTE SEIN, EIN MULTIKULTURELLES SCHULPROFIL ANZUSTREBEN!


Anmerkungen

1  Überarbeitete und ergänzte Fassung eine Vortrages auf dem Europäischen Kongreß gegen Rassismus, 13.-15. Nov. 1992 in Berlin. Zurück zum Text.

2  Hans-Jürgen Krumm: Das Selbstverständnis und Profil des multikulturellen Lehrers. Hamburg: Masch. o.J., S. 2.
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3  Integrierter muttersprachlicher Unterricht. Ein neues Fach für ausländische Kinder an deutschen Schulen. Forderungen und Begründung mit einer Beschreibung der derzeitigen Situation. GEW-Script 17. Frankfurt 1988, S.13.
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4  Hans Göpfert: Ausländerfeindlichkeit durch Unterricht. Konzeptionen und Alternativen für Geschichte, Sozialkunde und Religion. Düsseldorf: Schwann 1985. Zurück zum Text.

5  Hanna Kiper: Das ausländische Kind in den Richtlinien zum Sachunterricht in der Grundschule - Versuch einer Bestandsaufnahme. In: Sachunterricht und Mathematik in der Primarstufe 17/1985, S.87-91. Zurück zum Text.

6  Ursula Neumann: Hamburger Richtlinien und Lehrpläne unter dem Aspekt interkultureller Erziehung. In: Deutsch lernen 2/1986, S. 65-67. Zurück zum Text.

7  Annita Kalpaka / Ursula Neumann: Stellungnahme zum Lehrplan für die Gesamtschule. Sekundarstufe I. Politik. Hamburg 1991. Hamburg: Masch. 1992. Zurück zum Text.

8  Vergl. Sigrid Luchtenberg: Ermöglichen unsere Lehrläne und Lehrbücher Interkulturelles Lernen? In: Interkulturell 3/4/1990, S.146 ff. Zurück zum Text.

9  Mechthild Hauff: Wie berücksichtigen Lesebücher die Anwesenheit von Migranten? Eine Untersuchung für Grund- und Hauptschulen in Nordrhein-Westfalen. Hg. v. Landesinstitut für Schule und Weiterbildung, Curriculumentwicklung in Nordrhein-Westfalen. Soest 1988. - Dies.: Grundschullesebücher und Arbeitsmigration. In: Die Grundschulzeitschrift 37/1990, S.51f. Zurück zum Text.

10 B.Borries: Zwischen universalhistorischem Anspruch und eurozentrischer Praxis. In: M.Riekenberg (Hg.): Lateinamerika. geschichtsunterricht, Geschichtslehrbücher, Geschichtsbewußtsein. Frankfurt 1990, S. 163. Zurück zum Text.

11 Michael Riekenberg: Das Bild Lateinamerikas in deutschen Geschichtslernbüchern. In: Uta George / Mark Arenhövel (Hg.): Lateinamerika: Kontinent vor dem Morgengrauen. Nachdenken über ein schwieriges Verhältnis lateinamerika und Deutschland.Münster: unrast Verlag 1992, S. 13-26. Zurück zum Text.

12 Willem Fase / Sjaak Kroon: Interkultureller Unterricht in den Niederlanden: Einige Tendenzen zum Vergleich. In: Sjaak Kroon u.a. (Hg.):Interkultureller Unterricht. Ansichten und Erfahrungen aus Berlin-West. Veldadvisering Leerplanontwikkeling Moedertaal. Katholieke Universiteit Brabant. Enschede 1989, S. 116. Zurück zum Text.

13 Die Punkte 8-14: Leitgedanken für neue Lehrmittel. In: Unser täglicher Rassismus. Hrsg. v. Erklärung von Bern / Schulstelle 3. Welt. Bern o.J. S. 121.) Zurück zum Text.

14 Dies Kriterium halten Georg Hansen und Mechthild Hauff für wichtig im Hinblick auf eine europäische Curricula-Revision: Hansen/Hauff: Curricula-revision im Hinblick auf Europa. In: M.Heitzer / W.E. Spies (Hg.): LehrerInnen im Europa der 90er Jahre. Bochum 1993, S. 87-101. - Vergl. auch: Sprachenvielfalt im Stadtteil. Ein interkulturelles Projekt. AOL-Reihe Eine Schule für alle! Bd 1. Hrsg. v. Manfred Huth. Hamburg: AOL-Verein 19932. - Zurück zum Text.

15 Niki Eideneier / Arzu Toker (g.): Kalimerhaba. Griechisch-Deutsch-Türkisches Lesebuch. Köln: Romiosini Verlag 1992. Zurück zum Text.

16 Jürgen Zimmer: Die Solidarität in der einen Welt beginnt vor unserer Haustür. Über Erfahrungen mit interkultureller Erziehung. In: Masch.Manuskript für Björn Engholm(Hg.): Die Wiederherstellung der Bildungspolitik. Frankfurt: Eichborn Verlag 1985. - Vergl. auch: Paulo Freire: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. Reinbek: Rowohlt 1987, S. 64 ff. - Die praktische Umsetzung dieser Herangehensweise ist beschrieben in: Barbara Puha-Schulz: Wenn ich einsam bin, fühle ich mich acht Grad minus. Kreative Sprachförderung für deutsche und ausländische Kinder. Weinheim/Basel: Beltz 1989. Zurück zum Text.

17 Die Gesamtschule auf dem Weg zur interkulturellen Erziehung. Interview mit Ursula Neumann. In: GGG-Info. Landesverband Hamburg. 1/1989, S. 17. Zurück zum Text.

18 Vergl.: Sigrid Luchtenberg a.a.O. Zurück zum Text.

19 Auszug aus einer Diskussionsvorlage für eine pädagogische Konferenz zum Thema "Multikulturelle Schule".
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20 Im Herbst 93 erscheinen zwei Publikationen, die helfen, Sofortmaßnahmen sofort in Angriff zu nehmen. Als Koproduktion zwischen AOL-Verlag und Schneider Verlag (Hohengehren) kommt das Nachschlagewerk Hits für den Unterricht Interkulturelles Lernen heraus. Als AOL-Hosentaschenbuch erscheint in der Reihe: Eine Schule für alle! das Buch Unterricht gegen Rechts. Zurück zum Text.


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