Parteiliche Arbeitslehre als konkrete Lebenshilfe
Wie der Autor das Fach sieht

Manfred Huth

In: Manfred Huth / Christoph-Joachim Schröder (Hg.): Hits für den Unterricht. Bd. 3. Das schnelle Nachschlagewerk für die Fächer Erdkunde, Musik, Sport und Arbeitslehre. Reinbek: Rowohlt 1991. S. 17-21.

Neben der berufsorientierenden Qualifizierung findet im Arbeitslehreunterricht die Vorbereitung auf die gesellschaftlichen Bedingungen der Arbeitswelt, die Vorbereitung der SchülerInnen auf ihre zukünftige soziale Lage als abhängig Beschäftigte/Arbeitslose statt. Arbeitslehreunterricht muß aufzeigen, wie Produktionsverhältnisse, Arbeits und Lebensbedingungen, ökonomische, kulturelle und technisch-wissenschaftliche Entwicklungen voneinander abhängen und aufeinander einwirken. Die Befähigung zum Durchschauen wirtschaftlicher und wirtschaftspolitischer Grundgegebenheiten sowie die Entfaltung des Nachdenkens über den Sinn der Arbeit, über Menschlichkeit der Arbeitsbedingungen, Befriedigung durch Arbeit, gesellschaftlichen Nutz- und Gebrauchswert der Produkte, technischen Wandel und Ökologie - alles das erfordert das Ansetzen an der späteren (Lohn)Abhängigkeit der SchülerInnen. Sie sollen sich dann nicht hilflos einer undurchschaubaren und scheinbar nicht veränderbaren Realität ausgeliefert fühlen, sondern die Fähigkeit haben, gemäß ihrer Interessenlage zu handeln. Lernziele und Inhalte der Arbeitslehre sind daher unabdingbar politisch und interessenbezogen, Arbeitslehreunterricht ist deshalb als konkrete Lebenshilfe für die Lernenden parteilich. Diese Parteilichkeit konkretisiert sich in erster Linie durch sorgfältige Auswahl der Inhalte, ein Problem, dem sich jede DidaktikerIn stellen muß, da im Unterricht nun einmal nicht alles behandelt werden kann.

Wir sind damit bei den Auswahlkriterien unserer Empfehlungen: Was ist wesentlich, d.h. was hilft unseren SchülerInnen heute und später, Ihre von Widersprüchen und Interessen geprägte Lebenspraxis zu bewältigen?

Ein Beispiel: Lassen wir uns durch z.T. sehr aufwendig erstellte und optisch ansprechende Materialen verlocken, zehn Stunden in unserer Klasse am Börsenspiel der Sparkassen zu arbeiten, nehmen wir dadurch freiwillig eine Akzentverschiebung unseres Unterrichts zum Abseitigen hin (zukünftige Interessenlage eines Börsenspekulanten) hin in Kauf und verursachen dadurch für unsere SchülerInnen "Lernverbote" hinsichtlich anderer Inhalte. Denn diese zehn Stunden fehlen dann für weitaus wesentlichere Themen wie z.B. gewerkschaftliche Rechte, Kampf um bessere Arbeitsbedingungen, verantwortliche Produktion,.. Der Anspruch, Inhalte aufzugreifen, die für SchülerInnen lebenswichtig sind, sie im Unterricht auf grundlegende Zusammenhänge zu untersuchen und sich dabei vom Wahrheitsanspruch leiten zu lassen, bedeutet: keine, aber auch keine Fragestellung darf im Vorweg als illegitim, gar illegal tabuisiert werden - es sei denn, mensch möchte blinde und angepaßte Menschen. Parteilicher Arbeitslehrunterricht wird dabei immer wieder zu den zentralen Widersprüchen unserer kapitalistischen Wirtschafts- und Herrschaftsordnung vordringen, wobei es geboten ist, über den status quo hinaus weiterzudenken. Schule als Bildungsinstitution hat die Aufgabe, mit den Lernenden Überlegungen anzustellen in Hinsicht auf zukünftige, alternative Gesellschafts- und Produktionsformen.

Aber wie nun das Wesentliche finden aus dem Überangebot von Unterrichtsmaterialien zu den Bereichen Arbeit, Wirtschaft, Technik, Haushalt? Dazu bedarf es Leitlinien. Die Auswahl der Arbeitslehre-Hits orientiert sich an den Maßgaben der

Hedonistischen Enzeitdidaktik*

die aus einer Analyse der epochenspezifischen Hauptprobleme und ihrer Widerspiegelung im SchülerInnenvorbewußtsein gewonnen worden ist. "Endzeit" meint dabei, daß sich in der Welt ein nicht mehr in den Griff zu bekommender Problemwust herausgebildet hat, der die Gefahr des Gattungsendes als unterschwellige ständige Bedrohung in sich birgt. Dabei lassen sich drei Hauptproblembereiche ausmachen: 1. Umwelt, 2. Trikont, 3. Zweidrittelgesellschaft (Strampelei ohne Aussicht auf Lebenssinn). Das letzte Schlüsselproblem hat zwar auch wie die anderen beiden eine quantitative und materielle Basis, ist aber unter didaktischer Fragestellung psychologisch zu verstehen als Angst, ins untere Drittel der Gesellschaft abzurutschen. Dieses Gefühl betrifft die SozialhilfeempfängerIn wie die leitende Angestellte. Weiter gespannt handelt es sich um das Gefühl der Unfähigkeit, sein Leben als arbeitender Mensch verantwortlich zu gestalten. Von der Weimarer Republik bis zu den sechziger Jahren konnte eine rechte ArbeiterIn mit dem Sinnversprechen eines individuellen Horizontes (seine MeisterIn in einem existenzsicheren Betrieb machen, ein Haus bauen, Kindern eine beruflich/finanziell gute Zukunft ermöglichen) und eine linke ArbeiterIn mit dem Sinnversprechen einer kollektiven Perspektive (Sozialismus, klasssenlose Gesellschaft) leben. Nach der Erkenntnis vom Ende der westlichen Wachstumskonzeption wie der östlichen real praktizierten Kommunismuskonzeption ist im Bereich "Arbeitswelt" der Horizont in gleicher Weise verdüstert wie in den Bereichen "Umwelt" und "Trikont".

Wichtigster Punkt und Gelenkstelle zum "Hedonismus" ist das Gefühl "nichts machen zu können bei dieser Schußfahrt in den Abgrund" (Perspektivlosigkeit/Horizontverdüsterung). Um sich den Epochenproblemen eingreifend und politisch kämpfend zu stellen, muß die SchülerIn überzeugt sein, daß es ein sinnvolles Leben in die Zukunft hinein gibt. Der hedonistische Ansatz geht davon aus, daß diese Einstellung/Haltung gelernt wird und (auch linker) Unterricht hier den größten Nachholbedarf hat. "Hedonismus" meint das Lernen der rechten Lust: Wie lebe ich sinnvoll/lustvoll? Welche Alternativen gibt es zum Konsumrausch-Maloche-Zusammenhang? Wie nehme ich konkret die globale Verantwortung wahr (Lust durch Freude an Solidarität und politischer Aktivität)?

Hedonistischen Endzeitdidaktik: Arbeitslehrecurriculum

In Anlehnung an die Struktur gegenwärtigen Arbeitslehreunterrichtes sowie nach den Maßgaben der Hedonistischen Endzeitdidaktik gliedert sich das Fach in zwei Lernbereiche. Folgende sachliche Gliederung des Curriculums bedeutet keine Gleichwertigkeit der einzelnen Teile. Der hier vorgelegten Reihenfolge entspricht die Abfolge der einzelnen Rezensionen, Projektideen, Filme,..

1. Lebenshilfe zum Erlernen des rechten Genusses

Ein ästhetisch akzentuierter Werkunterricht mit der Möglichkeit zum ästhetischen Handeln im Sinne einer Selbstverwirklichung durch individuelle Gestaltung und individuellen Ausdruck - jede Schülerin erreicht ihr Optimum. Weg also von der Reproduktion technischer Vorgänge im Sinne der Erfüllung fremdgesetzter Präzisionsanforderungen, hin zu kreativem Ausdruck und Gestalten.

2. Lebenshilfe für die zukünftige Praxis als Lohnabhängige bzw. Arbeitslose

2.1. Lebenshilfe für die Produktionsarbeit

Im Unterschied zum ersten mehr individuellen Bereich konzentrieren sich hier die Bildungs- und Erziehungsbemühungen auf die Selbstverwirklichung als Gattungswesen: Im Mittelpunkt steht der Mensch, der im Kollektiv für seine Menschheits- und Klasseninteressen kämpfen muß.

2.1.1. Probleme Lohnabhängiger bzw. Arbeitsloser: Arbeitsbedingungen (Gesundheit, Bespitzelung), solidarisches Verhalten im Arbeitskollektiv, Aus- und Weiterbildung, Gewerkschaft, Betriebsrat, Arbeitsrecht, Mitbestimmung und Interessenvertretung, technischer Wandel (Rationalisierung, Qualifikationsverlust, Neu- und Weiterqualifizierung), Arbeitslosigkeit (Arbeitslosenunterstützung, -hilfe, Sozialhilfe, Selbsthilfegruppen)

2.1.2. Berufsorientierung: Berufsbilder, Betriebserkundungen, Praktika, Berufsfindung und -wahl, Bewerbung, Vorstellung

2.1.3. Politische Ökonomie: Handel und Wandel, Lohn und Gewinn, Mehrwert, internationale Arbeitsteilung, Imperialismus, Konzentration, Kapitalismus und Sozialismus, verantwortliche Produktion, menschliche Technik

2.1.4. Innerbetriebliche Ökonomie: funktionale und hierarchische Ordnung, ArbeiterInnenselbstverwaltung, Betriebsformen

2.2. Lebenshilfe für die Reproduktionsarbeit

Im Unterschied zum "Lernen des rechten Genusses" (Lernbereich 1) treten hier Anforderungen an genaues Arbeiten orientiert an funktionellen Standards hinzu. Überschneidungen mit dem ästhetisch-kreativen Bereich ergeben sich und sind intendiert.

Haushalt und Fahrzeugtechnik (Renovieren, Restaurierung von Sperrmüllmöbeln, Gegenstände selber herstellen, Reparaturen, Pflege und Reinigung, Kochen, Ernährung, Nähen, Stricken, Kleidungsreparatur und -änderung), Konsumplanung (Einkaufen, VerbraucherInnenzentrale, Kredit)

Wir haben bei unseren Rezensionen insbesonders solche Materialien berücksichtigt, die zukunftweisende, Perspektiven eröffnende Leitfragestellungen des hedonistischen Ansatzes enthalten:

- ArbeiterInnenselbstbestimmung: darin enthalten die Probleme Mann und Frau, Leitende und Ausführende, Jung und Alt, Einzelne und Kollektiv,..

- Verantwortliche Produktion und menschliche Technik: Natur- und Sozialverträglichkeit,..

- Geschichte: Wie war es früher? Welche gesellschaftlichen Kräfte haben dafür gesorgt, daß es so geworden ist, in positiver und negativer Hinsicht? Wer war von den Veränderungen als KostenträgerIn bzw. Nutznießer betroffen und wie haben die Betroffenen reagiert? In welche gesellschaftlichen und politischen Entwicklungslinien stellen wir uns und was ist unsere Perspektive?

Zusätzlich, weil es unseren Interessen als SchulpraktikerInnen entspricht, legten wir bei der Auswahl der zu empfehlenden Materialien methodische (Handlungs- und Projektorientierung, Realbegegnung, Ermöglichung lustvollen Lernens durch Selbsttätigkeit,..) und arbeitsökonomische Kriterien an: Ist das Material auch ohne langwierige eigene Vorbereitung einsetzbar? - Wie verständlich sind die SchülerInnenarbeitsblätter und Arbeitsanweisungen? - usw.

Entgegen unserer sonstigen Gewohnheit möchten wir den NutzerInnen des Arbeitslehreteils dringend ein theoretisches Werk ans Herz legen, das sich hinsichtlich der gesellschaftlichen Einschätzung und der entsprechenden Bildungsprioritäten mit unseren Überlegungen zu unserem allgemeindidaktischen Ansatz der Hedonistischen Endzeitdidaktik in weiten Teilen deckt:

André‚ Gorz: Kritik der ökonomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft. Berlin: Rotbuch Verlag 1989. 387 S., 38,00 DM.
Dieses Grundlagenwerk ist die theoretisch fundierte Anleitung zum politischen Handeln für Menschen, die sich in dieser Gesellschaft und von dem Primat der Ökonomie emanzipieren wollen. Gorz geht aus von der Hinfälligkeit der Arbeitsethik, weist nach, dass die Arbeitsgesellschaft in eine Krise geraten ist und von den Herrschenden nur mit Mühe die Arbeitsideologie (allen geht es besser, wenn alle mehr arbeiten) aufrechterhalten werden kann. Durch Automatisierung können wachsende Produktionsmengen mit abnehmender menschlicher Arbeit erzeugt werden. Die Menge der zu verteilenden Arbeit wird also knapper und bei Aufrechterhaltung der heute noch herrschenden Arbeitsideologie steht eine Spaltung der Gesellschaft in eine ökonomisch hyperaktive Klasse der DauerarbeitsplatzbesitzerInnen und eine Klasse der DienstbotInnen bzw. periodisch oder ganz Arbeitslosen bevor - eine die sich in der BRD mit "Zweidrittelgesellschaft" und "Neuer Armut" abzeichnet, in Italien, den Niederlanden, Großbritannien bereits klar ausdifferenziert ist. Gorz greift eine alte Forderung der Gewerkschaftsbewegung auf: einzige Möglichkeit, um einer drohenden "Südafrikanisierung" zu entgehen ist: die durch Neue Technologien freigesetzte Zeit auf alle zu verteilen ohne Einkommensverlust, da ja immer weniger Arbeit zur Produktion von mehr Reichtümern benötigt wird. Gorz geht aus von 100O Jahresarbeitsstunden pro Mensch für das Jahr 2000. Erstmals in der Geschichte würde sich damit für alle Menschen ein Teil des Traumes vom "Reich der Freiheit" erfüllen, wo die Menschen Dinge, deren Wert in ihnen selbst liegt, tun können. Gorz Perspektive und konkrete Utopie ist es, das "Reich der Notwendigkeiten", welches den Gesetzen der ökonomischen Rationalität gehorcht zurückzudrängen und den Menschen Räume freien Lebens zu erkämpfen, in denen sie autonom bestimmte, sinnvolle Ziele verfolgen können. Knack- und Ansatzpunkt aller erzieherischen Maßnahmen (auch und gerade die Gewerkschaft ist hier gefordert) ist es, dass die Menschen kaum noch sinnvolle Tätigkeiten (um ihrer selbst willen) kennen, um deretwillen sich eine Befreiung aus der Spirale Maloche-Knete-Konsum lohnen würde: künstlerische Tätigkeiten, politisches Handeln aus Überzeugung, karitatives, religiöses, wissenschaftliches, philosophisches Tun - alles, was was nicht zum Erwerb des Lebensunterhaltes dient, alles, was ein Bedingungsloses Sich-Selbst-Hingeben impliziert, alles, was das Motiv hat, das Gute, Wahre, Schöne zur Welt zu bringen. Der Übergang von einer produktivistischen oder Arbeitsgesellschaft zu einer Gesellschaft der befreiten Zeit oder Kulturgesellschaft erfordert von den Individuen eine Modellierung ihrer Bedürfnisstruktur. Schule hat bei diesem Prozess eine nicht zu unterschätzende Funktion; die Bildungsprioritäten müssen allerdings neu durchdacht werden (hier decken sich Gorz' Überlegungen mit dem allgemeindidaktischen Ansatz der "Hedonistischen Endzeitdidaktik" von Huth/Schröder; vergl.: demokratische erziehung 12/1987, S. 15 ff.): "... statt die Ausbildung 'menschlicher Computer' zu privilegieren [...], geht es darum, die Entwicklung unersetzlicher menschlicher Fähigkeiten in den Vordergrund zu stellen: manuelle, künstlerische, affektive, zwischenmenschliche, moralische Fähigkeiten; Bereitschaft und Fähigkeiten, nicht vorhersehbare Fragen zu stellen, Sinn zu verleihen, auch logisch stimmigen Unsinn abzuweisen usw." - Das Buch ist in erster Linie brauchbar, um sich selbst in diesen Umbruchzeiten zu orientieren, neu einzuorten und (Arbeitslehre)Unterricht neu zu poientieren; einzelne Textsequenzen eignen sich auch als SchülerInnenlektüre bzw. als Referatgrundlage. - Ein hochaktuelles Buch, dessen Inhalte nach- und weitergedacht werden müssen - es sei denn, mensch ist der Meinung am Ende der Geschichte angekommen zu sein.

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