„Unsere Staatsschule ist erfolglos"

Die neuen Hamburger Richtlinien für Erziehung und Unterricht

Manfred Huth / Christoph-Joachim Schröder
In: Demokratische Erziehung 7-8/1986, S. 28-32.

Unsere RichtlinienAnalyse ist zwar schon älter, aber hat noch heute Gültigkeit,
weil sich beschriebene Tendenzen und auch in neueren Richtlinien und Lehrplänen wiederfinden lassen und ...
nichts an Gefährlichkeit verloren haben.

Die Hamburger Schulbehörde hat neue „Richtlinien für Erziehung und Unterricht" veröffentlicht. Vieles erscheint begrüßenswert - Projektlernen, Schüler als Lernsubjekte, Abkehr von der Paukschule. Doch Christoph-Joachim Schröder und Manfred Huth vom Hamburger Didaktischen Zentrum haben so manchen mehr oder weniger gut verborgenen Pferdefuß entdeckt: „Wende" auf sozialdemokratisch?

1. Der bildungspolitische Stellenwert

Die 1985 von der Hamburger Schulbehörde herausgegebenen „Richtlinien für Erziehung und Unterricht", die in Gestalt einer Diskussionsvorlage für alle Schulformen gleichermaßen Rahmenbedingungen formulieren, sind in der pädagogischen Öffentlichkeit durchweg begrüßt worden. Man lobt ihre Abkehr von der Lern- und Paukschule, das Hervorheben des Projektgedankens, das Ernstnehmen der Schüler als Lernsubjekte. Allenfalls wird bemängelt, daß für die Verwirklichung mehr Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden müßten, um die sachliche Ausstattung der Schulen zu verbessern und mehr Lehrer einzustellen.

Diesem Begrüßungschor mögen wir so recht nicht beitreten. Insgesamt scheint uns das Papier eher in eine falsche Richtung zu weisen - bei durchaus begrüßenswerten Einzelaspekten.

Um den gefährlichen Tendenzen auf die Spur zu kommen, wollen wir das Papier zunächst einmal nicht so nehmen, wie es sich selbst gerne sieht, nämlich als nur um das Schülerwohl besorgte Reflexion und Zielbestimmung innerhalb des rein pädagogischen Gefildes. Vielmehr wollen wir es nehmen als das, was es ist, nämlich als vorsichtig („Es handelt sich ja nur um ein Diskussionspapier") eingeleitete politische Wende. „Innere Schulreform" heißt das Ganze zusammengefaßt, die nun an der Zeit sei, nachdem die „äußere" zum Stillstand gekommen sei bzw. zurückgenommen werde.
Zwischen den Zeilen wird in dem Hamburger Papier etwas deutlich, was man mit „Sinn- oder Funktionsverlust der Schule" bezeichnen könne. Es konstatiert, daß Schule an den Schülern oft vorbeigeht: „Der Erfolg der Schule hängt davon ab, ob sie ihre Schülerinnen und Schüler erreicht." So lautet ein markiger Leitsatz, dessen triviale Aussage zunächst nur wie eine aufgeblasene Binsenweisheit anmutet. Im Zusammenhang mit dem Reformcharakter der Richtlinien allerdings fällt der Satz ein Urteil über die derzeitige Schulwirklichkeit: „Unsere Staatsschule ist erfolglos. Sie erreicht Schülerinnen und Schüler nicht mehr." (Seite 5 - diese und alle folgenden Zahlenangaben beziehen sich auf die Veröffentlichung der Schulbehörde.) Gleichgültig, um welche Schulform es sich handelt, von Einzelfällen und -anstrengungen abgesehen ist die Unlust an Schule heute unleugbares Charakteristikum.
Der Grund ist eigentlich bekannt: Die Massenarbeitslosigkeit hat zur Folge eine gesellschaftlich durchgängige Perspektivlosigkeit. Wofür soll ein junger Mensch denn Anstrengungen auf sich nehmen, sich Leistungsbewertungen unterwerfen, Zwangsritualen einer Anstalt folgen, wofür soll er all das kurzfristig Frustige erdulden, wenn auch langfristig nur Frust zu erwarten ist? Innerlich den ganzen Kram hinzuschmeißen und die Zeit in passivem Widerstand abzusitzen, ist ja bei der für Hauptschüler wie für Abiturienten gleichermaßen am Horizont drohenden Arbeitslosigkeit eine Haltung, der man eine gewisse Konsequenz nicht absprechen kann. Schule kann mithin ein Versprechen, das sie in ihrer sozialstaatlichen Form immer schon gibt und das auch die Schulreform der siebziger Jahre als sie bewegendes Moment in sich getragen hat, nicht mehr aufrechterhalten: „Bildung lohnt sich! Gute Schulnoten garantieren beruflichen Erfolg!"

Die Schule hängt funktionslos in der Luft. Und da sie keine Beschäftigungschancen mehr bieten kann, treten ihre Abrichtungsfunktionen, ihre sinnlosen Rituale, ihre Aufgabe, für das Jugendalter Verbrechensprävention zu leisten, indem sie die Jugendlichen noch nicht auf die Straße entläßt und sie wie in einem Hort aufbewahrt, immer deutlicher zutage. Mit den Mitteln des bisherigen leistungsorientierten Lehrplans, der getragen wird von eben den Beschäftigungsversprechen, der die Lerngegenstände bezieht auf eine Gesellschaft, in der man als Arbeitender materiellen Erfolg garantiert bekommt und als kritischer Staatsbürger bzw. als politisch engagierter Gewerkschafter oder Bürgerinitiativler an der Demokratisierung aller Lebensbereiche mitwirken kann, ist kein Hund mehr hinter dem Ofen vorzulocken.

Die Bildungsreform der siebziger Jahre hatte als ideologischen Hintergrund eben diesen Bezug zwischen Bildung und Beschäftigung/Emanzipation, der in der damaligen Reformära Brandt wohl auch realer Hintergrund war. Die Realität hat sich verändert und der alte Zielhorizont von Schule hängt nun in der Luft. Da aber nicht abzusehen ist, wann in unserer marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft samt zugehörigem Staat jemals wieder Vollbeschäftigung eintritt, ja eigentlich sich schon alle mit dem Zustand der Massenarbeitslosigkeit abgefunden haben (wohlgemerkt: unter „alle" sind die unser Schulsystem bestimmenden politischen Kräfte gemeint), muß sich die Schule von der Perspektive „Bildung, Beschäftigung, materielle Sicherheit" verabschieden und andere Sinnaspekte für sich in den Vordergrund stellen. Dies wird mit den neuen Richtlinien versucht.
Halten wir als Zwischenergebnis fest: Die neuen Richtlinien (gleichgültig ob von CDU- oder SPD-Kultusbürokraten) reagieren auf die Massenarbeitslosigkeit und die daraus folgende Perspektivlosigkeit in unserer Gesellschaft, insbesondere auf die Perspektivlosigkeit unserer Jugend. Warum dieser politische Hintergrund nicht genannt, sondern statt dessen „rein pädagogisch" argumentiert wird, darauf darf sich jeder selbst seinen Reim machen. (Unser Reim ist „Wie sollte es auch anders sein?")

2. Inhaltslosigkeit und pädagogische Technologie

Was haben die Richtlinien nun anstelle einer politischen Analyse, die sich auf die Massenarbeitslosigkeit einließe, zu bieten? Worin sehen sie den Grund dafür, daß Schule ihre Schülerinnen und Schüler nicht erreicht?

Ein Mythos wird aufgetischt, der schon häufig bei Bedarf hervorgekramt wurde: der von der Überfrachtung unserer Lehrpläne und damit auch der Schüler mitt Wissensstoff: „Nun ist allerdings ... in der Schule die Tendenz zur Überfüllung des Unterrichts mit Inhalten angelegt. Ursache ist u.a. die Vielzahl der Schulfächer, die Notwendigkeit zu unterrichtlicher Detaillierung und Ausbreitung von Zusammenhüngen sowie der ständig noch wachsende Vorrat an Wissenswertem." (Seite 5)
Keiner dieser Erklärungsversuche für den faktischen Funktionsverlust der Schule und sein subjektives Korrelat, die Schulunlust, hält nüchterner Prüfung stand. Die Überfüllung des Unterrichts mit Inhalten kann mit der Vielzahl der Schulfächer nichts zu tun haben, denn etwa die Fächerzusammenfassung von „Geschichte", „Erdkunde" und „Politik" zu „Gesellschaftslehre" (z. B. in den Hessischen Rahmenrichtlinien oder an manchen reformierten Oberstufen der Gymnasien) hat eher den Kanon aufgebläht, da nun zusätzlich zu den bisherigen isolierten Wissensgebieten die integrativen, fächerübergreifenden Aspekte hinzugekommen sind. Wenn in dem gesellschaftlichen Problemhorizont neue Gebiete dazukommen, so wird bei einer bestimmten Fächerzahl die Inhaltsmenge nur vermehrt unter der Voraussetzung, daß Veraltetes nicht verringert wird. Probleme des Umweltschutzes, der neuen Technologien, des Friedens, der Dritten Welt, gesunder Ernährung, der Massenarbeitslosigkeit etwa kommen als neue Inhalte in die Schule ungeachtet der Tatsache, daß es eine bestimmte Anzahl von Schulfächern gibt.
Die Behauptung einer „Notwendigkeit zu unterrichtlicher Detaillierung und Ausbreitung von Zusammenhängen" per se ist schlicht Unfug. Wer oder was nötigt denn da? Die Sachen selbst? Nur unter der Voraussetzung, daß es nichts Wesentliches, folglich keinen Kern einer Sache und auch keine Verdichtung gibt, hat die Behauptung einen Sinn. Aber jeder Pädagogikstudent mit einer einigermaßen soliden Ausbildung lernt als Grundmuster der Didaktik das Prinzip des „Exemplarischen Lernens und der kategorialen Bildung", lernt zu fragen nach dem Bildungsgehalt eines Gegenstandes. Freilich kann nicht die Welt in allen Einzelheiten - und das ist zugleich nach dem Grundsatz der Beliebigkeit - in die Schule geholt werden. Es ist auszuwählen vom Lehrer bzw. von den Lehrplanvorschreibern, verantwortlich auszuwählen, wobei sich die Bestimmung des Wesentlichen (und damit der jeweiligen Detaillierung bzw. Ausbreitung von Zusammenhängen) aus den Lebensinteressen der Schüler herleitet. Dies aber ist kein Automatismus, sondern ein verantwortetes Urteil darüber, was den objektiven Interessen der Schüler entspricht.
Man setzt auf Schüleraktivität, unabhängig von den Inhalten. Man spielt Erziehung gegen Wissensvermittlung aus. Ein methodisches Arrangement, das Schüler durch Aktivität in Atem hält, soll die inhaltliche Leere überspielen. Das Zauberwort heißt „Projektunterricht": Besondere Ausgangsbedingungen für selbständiges Planen, Urteilen, Entscheiden und Handeln der Schüler „sind im Projektunterricht gegeben. Projektunterricht ist nicht im Sinne eines Lehrgangs in Ziel und Weg weitgehend festgelegt. Er entwickelt sich aus einer tragfähigen, ‘zündenden’ Idee. Schüler und Lehrer setzen sich für ein konkretes Ziel ein, dessen unmittelbare Bedeutung sie erkennen und anerkennen. Beispiele für Projektunterricht: Wir produzieren einen Film (bzw. Kurzfilm), wir schreiben und drucken ein Buch, wir machen eine Schülerzeitung, wir wirken mit bei der Gestaltung des Schulgebäudes (des Schulgeländes) nach unseren Vorstellungen, wir bieten ein Pausenfrühstück an, wir helfen bei der Sanierung eines Waldgebietes, wir erkunden unseren Stadtteil, ‘Allah in Hamburg'- auf den Spuren des Islam in der Hansestadt ... Die Arbeitsergebnisse werden Mitschülern, Lehrern und Eltern vorgestellt." (Seite 6)

Bei Betrachtung der Beispiele zeigt sich die Beliebigkeit der Projektinhalte. Warum und wozu „wir unseren Stadtteil erkunden", bleibt unerfindlich. Vielleicht, weil der Lehrer die „zündende Idee" dazu hatte? Um seiner Klasse einen Sinn durch unmittelbares Tätigsein zu geben, muß man nur verordnen, daß die Ergebnisse Mitschülern, Lehrern und Eltern vorgestellt werden. Die Präsentation ist das Ziel, und damit kann jeder Inhalt gerechtfertigt und zum Ausgangspunkt für Erkundung und Darstellung werden. So hat man die Schüleraktivität durch pädagogische Technologie angereizt, durch Betriebsamkeit das Gefühl von Sinnlosigkeit betäubt. Und man täusche sich nicht! Schüler lassen sich durch Projektwochen ein- oder auch zweimal faszinieren, auch wenn ihnen die Inhalte in ihrer Bedeutsamkeit äußerlich bleiben. Aber spätestens beim drittenmal, wo man den Braten schon riecht, wird der Frust wieder durchschlagen: „Öh, schon wieder Projekt".

3. Die Wendung zur Heimat und das „Vertrauen"

Die Hamburger Richtlinien geben zwar zu, und bei oberfiächlicher Lektüre mag man es als Errungenschaft lesen, daß Schule sich nicht „existentiellen Fragen verschließen dürfe wie den Fragen „nach Wegen zur Sicherung des Friedens, nach dem Zusammenleben von Menschen verschiedener Nationalitäten, Religionen und Kulturkreise, nach Leben und Überleben in einer bedrohten Umwelt, nach Gerechtigkeit in der Welt, nach einem Platz in der Gesellschaft arbeitender und verdienender Menschen, nach dem Eingriff von Medien in die Entwicklung junger Menschen." (Seite 11)

Aber der für seine Interessen kämpfende, der gegen Herrschaft sich wehrende, der Ideologien entlarvende Mensch ist nirgends zu finden. Statt dessen wird das Verhältnis von Schule und Wirklichkeit zu einem Problem an sich hochstilisiert: „Indem die Schule nach ihren Regeln Ordnungen schafft und Zusammenhänge herstellt, löst sie nur zu leicht ursprünglich gegebene Zusammenhänge auf; indem sie ihre Formen des Lehrens und Lemens entwickelt, läuft sie zugleich Gefahr, Situationen von beklemmender Künstlichkeit zu erzeugen und sich damit einzurichten. Eine ‘entwirklichte', ‘verschulte' Schul-Wirklichkeitentsteht; weniger ursprünglich, weniger lebendig, weniger glaubwürdig - es sei denn, es gelingt der Schule, Lebenswirklichkeit in sich aufzunehmen und aus sich selbst heraus mit ihren Schülern Wirklichkeit im vollen Sinne hervorzubringen, lebendig zu sein." (Seite 11)
Diese fundamentalistische Schulkritik stimmt hinten und vorne nicht. Das „vorne", die Behauptungen, die Erklärungsversuche über die Gründe des Schulfrustes: Schule schaffe nach ihren Regeln Ordnungen. Ein aufmerksamer Gang an nur einem Tag durch eine einzelne Schule wird zeigen, daß es lebendigen und toten Unterricht gibt, lebendige und tote Lehrer, Anstachelung der geistigen Auseinandersetzung und Verödung - mit den Regeln der Schule hat das zunächst einmal nichts zu tun. Viel wichtiger ist, nach welchen Kriterien die Wirklichkeit interpretiert wird, unter welcher Zielrichtung.

Die Richtlinien dagegen suggerieren eine Würde des ursprünglich gegebenen Zusammenhanges. Dem halten wir entgegen, daß jede Bewußtseinsbildung über Welt, wenn es denn nicht blinde Reproduktion des Bestehenden, mithin Verdoppelung sein soll, ihren Weg über die Auflösung des ursprünglich Gegebenen nehmen muß. Eben dies ist der Wert von Schule, Reflexion im vollen Sinne zu ermöglichen und so zum Wesentlichen zu kommen, das zugleich das Wirkliche ist, wirklich im Sinne des kämpfenden Veränderns der Welt als Emanzipationsprozeß. „Ursprüngliches" ist kein Wert, „Lebendiges" im Sinne des bewußtlosen, vorreflexiven Gewimmels ist kein Wert und „Glaubwürdiges" in der kruden Form etwa glaubwürdiger, nackter Gewalt ist auch kein Wert.
Woher aber kommt dennoch die suggestive Kraft der fundamentalistischen Schulkritik? Woher stammt der Eindruck der „Künstlichkeit"? Nicht an einer Entwirklichung schlechthin qua Institution, sondern an einer spezifischen Entwirklichung liegt es. Schule vertritt weder die substantiellen Interessen der Schüler als sich wehrende Menschen, noch löst sie die Funktion ein, für einen Beruf bzw. Arbeitsplatz zu qualifizieren. Aber weil sie nicht zugeben kann, daß Herrschaftsinteressen auf spezifische Weise die zu konstatierenden Entfremdungsphänomene produzieren, muß die Kulturbürokratie zur Erklärung des Funktionsverlustes von Schule die Entwirklichungstheorie produzieren.

Kommen wir nun zum „hinten", das auch nicht stimmt, zu den Lösungen, die vorgezeichnet werden: ,Die Schule stellt Nähe zu außerschulischer Lebenswirklichkeit her, indem sie den Lernort Klassenzimmer verläßt und sich an das Geschehen ‘draußen’ heranbegibt." (Seite 11)
Der fundamentalistischen Entfremdungsbehauptung folgend wird mithin das Heil im Kontakt, im Konzept „Nähe" (zum ursprünglich Gegebenen) gesucht. Die Beispiele sprechen eine deutliche Sprache:

Genug! Da ist die „Realbegegnung" des alten Heimatkundeunterrichtes nichts dagegen und im übrigen seit Urzeiten didaktisch-methodisches Gemeingut. Wer wollte nicht, wenn es möglich ist, die „Realbegegnung" dem Arbeitsblatt oder dem Lernbuchtext vorziehen? Aber eine richtige und wichtige Antwort auf das Sinnlosigkeitsproblem, daß Schule derzeit oft an den Schülern vorbeigeht, ist das alles nicht. Denn die wichtigste Frage bleibt ausgespart: Unter welchen Kategorien, d.h. mit welchem Ziel stellen wir die Nähe zur Realität her? Nur sie entscheidet darüber, ob wir entwirklichen (also verdummen, beruhigen, zufriedenstellen) oder wirken (kritisches Bewußtsein bilden, Unruhe schaffen, Ansprüche vertreten).
Welches Schülersubjekt hat der Hamburger Richtlinienmacher im Auge? Wir haben bereits festgestellt, daß eine mündige, gegen Obrigkeiten sich wehrende, Herrschaft bekämpfende und für seine Interessen als zukünftiger Lohnabhängiger sich aktiv einsetzende Persönlichkeit in den Richtlinien nicht auftaucht. Das Schlüsselwort heißt „Vertrauen", das im Zuge der Wende an die Stelle von „Kritik" tritt. Zwar gab es auch in der Emanzipationspädagogik die Vertrauenskategorie, aber als eine, die zugleich gegen etwas gerichtet war. Das generelle Fehlen dieses „gegen" kennzeichnet schlagend den grundsätzlichen Charakter der neuen Richtlinien, der Wende. „Nicht aufs Parlament vertrauen, auf die eignen Kräfte bauen!" - darin zeigt sich antiautoritärer Gestus, Handlungswille, und mit dem Bezug auf die eigenen Kräfte war immer ein handelndes Kollektiv mitgedacht, das Bewußtsein als Gewerkschafter, als Aktivist in Bürgerinitiativen, als Teilnehmer von Demonstrationen, als Mitglied in einer Partei, als Juso, als Kommunist oder als Grüner zu wirken. Bei aller Betonung des selbständigen, verantworteten Agierens als Subjekt gab es zugleich ein „Wir"-Bewußtsein, organisiert oder auch autonom zum Kollektiv der fortschrittlichen Menschen zu gehören, die diese Welt verändem wollen, weil sie ihnen nicht gefällt.

In den neuen Richtlinien ist viel von Vertrauen die Rede, auch von Vertrauen in die eigenen Kräfte: „Der Erfolg von Schule hängt davon ab, ob es gelingt, eine Grundiage des Vertrauens zu schaffen und zu bewahren." (Seite 8) So lautet ein weiterer Leitsatz, bei dem wir, wenn wir ihn wiederum nicht als gewichtig aufgeblähte Banalität auffassen wollen, auf seinen konkreten Inhalt schauen müssen. Und dort ist klar gesagt, daß hier von Zielen die Rede ist, die mit der Vertrauenskategorie der Emanzipationspädagogik nichts zu tun haben.
Wir glauben, daß im harmlosen Gewande neue Inhalte als relevant in die pädagogische Realität eingeführt werden, die mit ihrer Begrifflichkeit zugleich alte, besser: demokratische Bestrebungen aus dem Bewußtseins- und Zielhorizont verdrängen. Hören wir, in welchem Zusammenhang von „Vertrauen" gesprochen wird. Es geht um eine neu zusammengesetzte Klasse:
„Lehrer und Schüler stehen vor einem neuen Anfang. Die ersten Begegnungen, die ersten Eindrücke sind entscheidend. Sie bewirken das positive oder negative Vorzeichen, das die gegenseitige Wahrnehmung und die weitere Entwicklung der Beziehungen bestimmt. Wenn Lehrer (Klassenlehrer) und Schüler sich z.B. zunächst der Gestaltung ihres Klassenraumes mit besonderer Aufmerksamkeit zuwenden (auch in den zweckbestimmten Schulräumen kann so etwas wie Wohnlichkeit und ein Zuhause entstehen!), dann drückt sich bereits darin die Bedeutung aus, die sie der Schulatmosphäre und dem Miteinander-Umgehen geben. Eine Zukunftsperspektive wird deutlich: das Bestreben, sich auf längere Zeit miteinander einzurichten und dem Zusammenleben Gestalt zu geben. Ansätze eines Wir-Gefühls können sich im Zusammenhang mit schulischen Erfolgen bilden: „Wir nehmen uns etwas vor, und was wir uns vomehmen, das schaffen wir auch!" (... )
Die in der gestalteten Eingangsphase geschaffenen Ansätze werden in der folgenden Zeit weiterentwickelt. Die hier liegenden Aufgaben werden vornehmlich vom Klassenlehrer in seiner Rolle als Bezugsperson für die Schüler wahrgenommen.Sein Einfluß und wachsendes Vertrauen untereinander ermöglichen es den Schülern, sich zugehörig und aufgehoben zu fühlen. Der so gewonnene Rückhalt erleichtert es dem einzelnen, sein Selbstvertrauen auszubilden. Auch die Stillen und Zurückhaltenden werden zu freierer Äußerung ermutigt, wenn sie Hilfe erfahren, wenn das Erfordernis gegenseitiger Rücksichtnahme von allen Schülern verstanden wurde und sich ein Zusammengehörigkeitsgefühl ausgebildet hat. (Seite 8)
Das Schulleben soll also die fehlende Perspektive ersetzen. Das heimelige Sich-Einrichten im Bestehenden als Antwort auf die Massenarbeitsiosigkeit. Wo die Welt draußen nur Packeis ist, pflegen wir unsere Beziehungen. Und da ist dann konsequent nur noch von „Wir-Gefühl" und „Zusammengehörigkeitsgefühl" die Rede, das eben etwas ganz anderes ist als Kollektivbewußtsein. Was übrigens auch schwer sein kann, wenn im Mittelpunkt als das das Kollektiv organisierende Zentrum nicht die gemeinsamen „Interessen für und gegen etwas" stehen. Da aber das organisierende Zentrum der gemeinsamen Sache fehlt, muß von außen der Zusammenhalt geschaffen werden, und das führt zur dominierenden Rolle des (Klassen-)Lehrers: „Sein Einfluß und wachsendes Vertrauen untereinander ermöglichen es den Schülern, sich zugehörig und aufgehoben zu fühlen." (Seite 8) Schön und gut, und auch richtig, aber nur, wenn etwas anderes Wichtiges nicht fehlt. Gibt es keine Mißstände in der Schule? Gibt es nicht für Schüler schon das konkrete Ziel, an ihrem Arbeitsplatz "Schule" für die Beseitigung von Mißständen einzutreten und die Schule zu verändern?
Man hat dies früher „Schulkampf" genannt, den Versuch, den eigenen Lebensbereich zu gestalten durch politische Bewegung. Ist denn das kein Wert? Suggestiver noch: Ist nicht erst das ein Wert, im Koilektiv einer Schülerbewegung Kräfte zu entwickeln, Erfolge zu erzielen, die man selbst setzt und gegen andere durchficht? Kann sich nicht sogar ein Klassenlehrer über Konflikte mit seiner Klasse freuen, weil in der Schule das Leben tobt? Wie weit sind diese Richtlinien entfernt von einer Auffassung, bei der auch gerade Auseinandersetzung und Konflikt als kämpferische Durchgangsstadien zu Kompetenz im weitesten Sinne geradezu für notwendig gehalten werden!
Im weiteren Textverlauf kommt die Katze aus dem Sack hervor, und wir können erkennen, wohin die Reise geht. Wir müssen erkennen, daß unsere Interpretation nicht hinreicht, Schule werde hier im Zuge der Wende umgestaltet zur pädagogischen Provinz, zum Schonraum, zur Heimat (im Sinne des heimeligen Zusammenhockens und erfolgreicher Innengestaltung), die Schülern angesichts realer Perspektiviosigkeit Sinn vorgaukelt und den Lehrern zuschreibt, in Projekten Sinn und Überschaubarkeit zu inszenieren.
„Die soziale Leistung liegt im Gestalten des Zusammenlebens und der Zusammenarbeit, im Entwickeln, Ordnen und Stabilisieren der Beziehungen zwischen den Beteiligten im Sinne des gesellschaftlichen Auftrages der Schule. Es geht darum, im Spannungsfeld der z.T. gegeneinander gerichteten Ansprüche, die Heranwachsende einerseits stellen und die andererseits an sie gestellt werden, Klärungen vorzunehmen und die für gemeinschaftliche Arbeit im Rahmen der Schule nötige Balance herzustellen. Dabei steht dem Bemühen, Meinungsverschiedenheiten nicht unnötig zu verschärfen, die Einsicht gegenüber, daß Zusammenarbeit und Zusammenleben auch bedeutet, die darin angelegten Konfliktsituationen zu akzeptieren. Eine Ordnung der Zusammenarbeit und des Zusammenlebens in diesem Sinne ist weniger als Sammlung von Prinzipien zu verstehen, eher aber als Prozeß des Ordnens, der Auseinandersetzung und Verständigung. Die Sicherheit, welche sie den Menschen im Umgang mileinander und für die gemeinsame Arbeit zu geben vermag, hängt davon ab, wie dieser Prozeß von den Beteiligten und für sie gestaltet wird, aber auch von der Selbstverständlichkeit, mit der Regelungen und Vereinbarungen von ihnen respektiert werden. Den Schülern erscheint schulische Ordnung um so weniger als unverständliche oder abstrakte Ver-Ordnung, je mehr sie sich in die Verantwortung für die Gestaltung von Unterricht und Schulleben einbezogen fühlen." (Seite 9)

Der aufmerksame Interpret wird natürlich sofort über den Ausdruck „im Sinne des gesellschaftlichen Auftrages der Schule" stolpern und danach fragen, wie der aussieht und wer ihn gibt, vor allem aber, worin der Sinn liege. Darüber kann man viel spekulieren und wird kaum jemals cine bündige Auskunft erwarten können. Wir machen statt dessen den Vorschlag, ein kleines Gedankenexperiment zu wagen und den Text einmal umzuformulieren, so daß er aus dem „Handbuch zur Menschenführung im Betrieb" vom deutschen Unternehmerinstitut stammen könnte.
So springt der Sinn des gesellschaftlichen Auftrages, den sich die Richtlinienmacher zu eigen machen, von ganz allein ins Auge. Schule sieht sich als das, was sie ist, als Betrieb, in dem propädeutisch Leistungen erbracht werden müssen, inhaltlich beliebige zwar, aber an ihnen soll nun doch Wichtiges geübt werden: „Die Schule erreicht ihre Schüler und lehrt sie, mitverantwortlich zu denken und zu handeln, indem sie Unterricht und Schulleben mit ihnen zusammen gestaltet" (Seite 5) und „Im überschaubaren Rahmen lernen die Schüler Verantwortung zu teilen, verantwortlich zu handeln und Verantwortlichkeit des Handelns zu verlangen." (Seite 6)
Man darf bei allem diesem den Rahmen nicht vergessen, das Fehlen von Interessengegensätzen, das Feblen eines Kampfes um Interessen. „Verantwortung" spielt sich also ab im Rahmen nur formaler Unterrichtsgestaltung: „Wer kann diese, wer kann jene Aufgabe übernehmen, wer erkundigt sich, schlägt nach, arbeitet aus, macht sich Gedanken über, führt ein nötiges Gespräch, hilft ... ?" (Seite 6)
Es geht schlicht um Arbeitstugenden. Und hier reagiert die Kultusbürokratie in der Tat darauf, daß in Hinsicht auf die spätere Arbeitsweit inhaitliche Qualifikationen zunehmend weniger Bedeutung haben. Schule kann kaum noch sagen, warum ein Großteil der von ihr vermitteiten Inhalte für die Arbeitswelt Bedeutung haben sollen, schon gar nicht kann sie Zertifikate für materiellen Wohlstand in Form eines Arbeitsplatzversprechens abgeben. Aber sie kann formelle Leistungsbereitschaft einüben: „Und sie ist sich weiterhin dessen bewußt, daß sich ihr Erziehungs- und Bildungsauftrag nicht auf die Vermittlung von Wissen, so wichtig dies auch ist, reduzieren läßt. In der Schule geht es nicht zuletzt darum, daß der Heranwachsende seine Rolle als Schüler mit wachsender Einsicht besser versteht und gestaltet, daß er (in Schritten und soweit es ihm möglich ist) die Verantwortung für sein Handeln und für sein Unterlassen erkennt und annimmt." (Seite 6)
Zugleich allerdings soll Schule ihren Zöglingen beibringen, mit Konflikten zu leben, Konflikte auszuhalten. Dies ist, wenn wir unserem Verfahren folgen, die Richtlinien im Lichte der Maßgaben der demokratischen, antiautoritären, emarizipatorischen Schulbewegung der siebziger Jahre zu lesen, eine bemerkenswerte Abkehr von jeglicher Konfliktpädagogik. Freilich leugnet das Richtlinienpapier nicht das Auftreten von Auseinandersetzungen, aber es sieht sie gemäß dem Blickwinkel einer um reibungsloses Funktionieren besorgten Verwaltung allenfalls philosophisch als Ausdruck von Spannungen überhaupt:
„Widersprüche und Konflikte, die hier auftreten können, betreffen Lehrer, Schüler und Eltern. Erlasse und Verfügungen können klären und regeln, Gespräche und Übereinkünfte können mildemd wirken, aber für die jeweils Betroffenen bleiben Spannungen, die in der Schule, im Unterricht und im menschlichen Zusammenleben überhaupt angelegt sind." (Seite 10)

4. Relativismus und Wissenschaftsfeindlichkeit

Nach welchen Grundsätzen sollen Schüler ihre geistige Selbstbescheidung durchführen, um nicht in die Fehlhaltung zu verfallen, die Welt nach Interessengegensätzen zu beurteilen, Kritik zu üben und ihre Interessen kämpfend im Kollektiv durchzusetzen?
Wir waren in den Richtlinien zunächst auf das Prinzip „Heimat" gestoßen, im inhaltlichen Sinn auf „Heimat durch Unmittelbarkeit der Gegenstände", im psychologischen Sinn auf „Heimat der Schulgemeinde". Wir hatten gesehen, wie durch solche Akzentsetzungen falschen Gelüsten (gemessen am „gesellschaftlichen Anspruch an die Schule") vorgebeugt werden soll.
„Distanz erwächst aus dem Gegensatz von Meinungen. Die Schule geht auf diesen Gegensatz ein (didaktisches Prinzip des kontroversen Denkens). In der Auseinandersetzung (auch) mit der erfahrenen Wirklichkeit schärft sie den Blick ihrer Schüler für die Relativität von Meinungen, für die in das Denken und Argumentieren eingehenden Voraussetzungen und Interessen. Sie verhilft den Schülern dazu, Interessengegensätze zu erkennen, sich der eigenen Interessen bewußt zu werden und diese im Sinne einer Gestaltung des Zusammenlebens in gegenseitiger Achtung wahrzunehmen.
Distanz wird auch aus anderen Gründen erforderlich: Heranwachsende verbinden mit der Suche nach sich selbst die Suche nach ihrem Platz in der Gesellschaft. Sie müssen ihr Bild von sich erweitem, verändern, in Übereinstimmung mit ihren sozialen Erfahrungen (nicht nur in der Schule) bringen, und sie suchen Übereinstimmung mit Erwartungen, welche die Gesellschaft an sie hat. Identifikationen und Abgrenzungen müssen erfolgen, Selbsteinschätzung muß gelernt werden. Indem es ihnen gelingt, Bezüge zu ihrer sozialen Wirklichkeit zu finden, diese zu erweitern, sich zugehörig zu fühlen und doch ‘den Kreis um sich zu ziehen'. . . " (Seite 5)

„Kontroverses Denken" stellte einige der wenigen Wirkungen dar, welche die Emanzipationspädagogik auf die Hamburger Richtlinien Mtte der siebziger Jahre hatte. Es war gleichsam die Hamburger Variante der Konfliktpädagogik im Bereich politischer Bildung. Weg von dem Harmoniezwang, Widersprüche sollten nicht mehr verschwiegen, sondern im Unterricht thematisiert werden. Wohlwollende Interpreten sahen in jenem Prinzip der Kontroverse die Aufforderung, einen sozialen Konflikt nach allen Seiten hin zu untersuchen, die verschiedenen, oft gegensätzlichen Standpunkte hin nach ihrer Berechtigung zu befragen, Wahrheit von Rechtfertigungslügen zu scheiden, die zugrundeliegenden Interessengegensätze aufzuspüren und schließlich einen Standpunkt zu beziehen, was ja durchaus beinhalte, den Standpunkt parteilich auf nur einer Seite des Streites zu haben, durch Bezug des Konfliktes auf die eigene Interessenlage auch sich selbst auf einer der beiden Seiten stehend zu sehen in Distanz zu einem Gegner. Weniger wohlwollende Interpreten der „Kontroverse" als didaktisches Prinzip haben aber damals schon darauf aufmerksam gemacht, daß solches Denken auch zur unpolitischen Distanz des Betrachters führen könne, der verschiedene Standpunkte zu eben nur verschiedenen Perspektiven mit gleicher Berechtigung erklärt: Es gibt eben mehrere Perspektiven, alles ist relativ, alles kann richtig sein.
Es gibt nichts Privateres, nicht folgenloseres als „eine Meinung haben". Du hast deine Meinung und ich habe meine Meinung - fertig, da stehen wir nun beide und gestalten unser Zusammenleben in gegenseitiger Achtung. Du billigst Reagans Militäraktion gegen Libyen und ich verabscheue sie, du bist für den § 116 und ich dagegen, du bist für Rausschmiß der Ausländer und ich dagegen - so hat denn jeder eine Meinung, und deswegen wollen wir uns doch nicht in die Haare kriegen. Denn wir müssen doch beide zugeben, daß es für jeden Standpunkt gute Gründe gibt, in ihn gehen Voraussetzungen und Interessen ein, woraus folgt: Meinungen sind relativ, eben nur Perspektiven. Bei dieser ganzen Wirrnis ist es doch am besten, den Kreis der Privatheit um sich zu ziehen, um Distanz innerhalb der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit zu gewinnen.
Man sage nicht, die Passagen der ,Richtlinien" könnten doch auch anders verstanden werden, daß nicht Privatisierung, also das Unpolitischsein folge, sondem Handeln, Standpunkt parteilich beziehen, kämpfen für seine Interessen und das Durchsetzen gegen eine herrschende Macht. Es weist nämlich im Gesamttext nichts in diese kämpferische Richtung, aber alles in die andere. So stellt das Prinzip der Kontroverse die Harmonie auf höherer Ebene her, indem man zwar Widersprüche noch konstatieren darf, aber man sich dann mit ihnen abzufinden hat.

Der zweite Versuch (neben der Nutzung der „Kontroverse" zu Harmonisierungszwecken) der Selbstbescheidung von Schülern bei der Weltaneignung ist die Diskreditierung von Wissenschaft. Hier handelt es sich um einen schlimmen Versuch, Gesellschaft gegen Kritik zu immunisieren. Aufklärung als geschichtliche Errungenschaft hatte ihre Stoßkraft darin, daß nichts geschichtlich Gewordenes bestehen sollte, was nicht vor dem Richterstuhl der Vernunft bestehen konnte. Wonach aber Vemunft sich richten sollte, war Wissenschaft. Nichts ist legitimiert aus Tradition, von Gottes Wort her oder weil ein starker Faustschlag es zwangsweise fixiert. Statt dessen soll die Sache geprüft werden, Gründe sind für Berechtigungen beizubringen, die zwanglos jeder Person einleuchten müssen. Und das Erforschen von Zusammenhängen, von tieferliegenden Ursachen, die Unterscheidung von Zufälligem und Notwendigem, das Ermitteln von Gesetzmäßigkeiten, die Anerkennung von Logik, das umfassende Bereitstellen von systematischer Erfahrung, die Bestimmung von Triebkräften - kurz: die „Sichtweise Wissenschaft" ist die einzig mögliche Bewußtseinsform zur Humanisierung der Welt.

Es ist, das muß man so hart formulieren, ein völliger Unsinn, daß „mit der Wissenschaft ein dem jungen Menschen in der Regel fremdes Denken in die Schule komme". (Seite 13) Es sei denn, die Autoren der Richtlinien setzen den unter Verwertungsinteressen stehenden Wissenschaftsbetrieb unserer Gesellschaft mit Wissenschaft schlechthin in eins. Aber für so dumm wollen wir sie nicht halten.
Jedes Kind, das die Dinge nicht mehr einfach hinnimmt, wie sie erscheinen, und nach dem „Warum" fragt, hat „Wissenschaft" als die einzig mögliche Quelle seiner Selbständigkeit im Bewußtsein erfaßt. Sie ihm dadurch wieder aus der Hand zu schlagen, indem sie als Fremdheit einer „Lebenswelt" entgegengesetzt wird, stößt Menschen wieder zurück ins jeweilige alltägliche Machtgetriebe. Der ganze Ansatz der Richtinien dient denn auch nicht dazu, Schüler mit den wissenschaftlichen Verfahrensweisen systematisch vertraut zu machen, ihnen zu zeigen, welche Waffe im Leben sie damit in der Hand halten, sondern durch Hochstilisierung der Wissenschaft zum „ganz Anderen", durch Aufreißen einer künstlichen Kluft von Wissenschaft und Leben, sie der Wissenschaft zu entfremden.
„Wissenschaft in der Schule bedeutet Unterricht, der in kritisches Denken einführt" - nun ja, bei allem Unbehagen findet der sich am Wert der Kritik orientierende Emanzipationspädagoge schließlich doch seinen Lieblingsbegriff wieder.

Vorsicht! Lesen wir sorgfältig zu Ende, ehe wir zu früh frohlocken: „Wissenschaft in der Schule bedeutet Unterricht, der in kritisches Denken einführt: kritisch im Hinblick auf die gemachten Voraussetzungen, auf den Gültigkeitsbereich der Aussagen, auf die angewandten Methoden und nicht zuletzt gegenüber dem erkennenden Subjekt selbst und der Bedeutung erkenntnisleitenden Interesses. Er verschweigt nicht, daß sich Wissenschaft entwickeit, daß wissenschaftliche Erkenntnis prinzipiell überholbar ist und daß die Möglichkeiten menschlicher Sicht auf die Welt nicht auf Wissenschaft begrenzt sind." (Seite 13)

Man muß nichts kommentieren. Diese Passage spricht für sich selbst: Kritik an der Gesellschaft wird umgemodelt zur permanenten Selbstkritik, zum Standpunkt des ‘es kann eben auch alles ganz anders sein’.

Nachbemerkung

Vielleicht mag ein freundlicher Leser der „Richtlinien" unsere Kritik überzogen finden. Das sollte so sein, denn ihr Sinn liegt in der Verdeutlichung gefährlicher Tendenzen. Wenn wir mit unserem anachronistischen Vorgehen, die Behördenvorlage im Licht der Emanzipationstendenz im Schulwesen der siebziger Jahre zu lesen, demokratischen Kollegen und Kolleginnen Ansatzpunkte zum genaueren Hinsehen und zur Diskussion geliefert haben, freuen wir uns. Und wir freuen uns auch, wenn sich Kollegen und Kolleginnen, die mit unserer Streitschrift etwas anfangen konnten, mit uns in Verbindung setzen.

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Manfred Huth, geb. 1946, Lehrer
Christoph-Joachim Schröder, geb. 1947, Zauberkünstler
Beide sind Mitarbeiter des Didaktischen Zentrums Hamburg, ltzehoer Weg 3, 2000 Hamburg 20.

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