Hedonistische Endzeitdidaktik -
das Curriculum für das Jahr 2000

Manfred Huth / Christoph-Joachim Schröder

In: Horst Bethge / Susanne Gondermann / Manfred Huth (Hg.): Bildungsdreform 2000. Plädoyer für eine alternative Bildungspolitik in Hamburg. Hamburg: Ergebnisse Verlag 1989. S. 67 - 78.

Daß unser Schulsystem seiner einzig sinnvollen und humanen Aufgabe, SchülerInnen auf das zukünftige Leben vorzubereiten, nicht gerecht wird, ist evident. Ob auf Hauptschulebene in Form des Vandalismus und des Schuleschwänzens, also über Anforderungsverweigerung, oder auf gymnasialer Ebene in Form artikulierter Kritik ("Wieviele Staubblätter gezählt! Wieviele Klimatabellen angelegt! Wieviele Formeln auswendig gelernt! - Aber was hat das mit meiner Zukunft zu tun?" - unsere Jugendlichen verteilen nur schlechte Noten. Dabei kommt es wesentlich auf die sinnvolle und humane Aufgabenstellung an. Denn unsere Klassengesellschaft weist dem Schulsystem auch Funktionen zu, die mit menschenwürdigem Leben nichts zu tun haben. Zum einen sollen Kinder auf künftige Verwertungstechniken hin trainiert werden, welche der durchschnittliche fortgeschrittene Arbeitsprozeß erfordert. Das sind die Ansprüche der "Wirtschaft", nachzulesen in periodischen Klagen der Industrie- und Handelskammern bzw. durch Verlautbarungen des BDI und ähnlicher Clubs. Durchgängiger Tenor derzeit ist der Ruf nach informationstechnischer Grundbildung. Man sollte ehrlicherweise von informationstechnischer Abrichtung sprechen. Wenn statt Religions- oder aber auch statt Physikunterricht ab sofort Computerschulung mit allen Schikanen (und unter Auslassung aller gesellschaftskritischen Aspekte!)als Unterrichtsfach der Sek I eingeführt würde, könnte sich ein Kultusminister vor Applaus aus dieser Ecke kaum retten. Er hätte die Zeichen der Zeit erkannt.

Eine derartige Modernisierung des Schulwesens an das Beschäftigungssystem ist nicht zu umgehen, wenn mensch die Ausrichtung auf jeweils spezifische Ansprüche der Wirtschaft für gerechtfertigt hält. Daß die herrschende politische Öffentlichkeit dies meint, ist nicht zu übersehen. Die große Bildungsreform der siebziger Jahre (die von der SPD vorangetriebene und von der CDU mit- bzw. nachvollzogene) war begründet und motiviert durch einen Modernitätsrückstand hinsichtlich der technischen Entwicklung. Zur Erinnerung mögen die Stichworte "Sputnikschock", "Pichts Bildungskatastrophe", "Ausschöpfung aller Begabungsreserven" hinreichen. Das starre dreigliedrige Schulwsen, der volkstümliche Unterricht und das humanistische Gymnasium entsprachen nicht mehr den Anforderungen einer modernen Industriegesellschaft und die Ergebnisse dieser Ausrichtung haben wir heute. Sie drohen erneut zu veralten, bezogen auf das Beschäftigungssystem dysfunktional zu werden. Solche Ausrichtung auf Wirtschaftsanforderungen bezeichnen wir nicht als inhuman. Obwohl man sich natürlich fragen kann, wie weit der Ausbildungsanteil von Schule reichen muß. Wenn es nach unseren Handwerks-, Industrie- und Handelskammern ginge, müßte Schule keiner anderen Aufgabe als dieser einen folgen. Wir werden später auf die ausbildungspropädeutische Funktion des Unterrichts noch kurz eingehen. Es genügt an dieser Stelle aber, darauf hinzuweisen, daß sie als eine das Schulwesen entscheidend prägende Funktion an der sinnvollen und humanen Aufgabenstellung keinen Anteil hat - ihr aber auch nicht widerspricht (es sei denn, sie dränge den eigentlich pädagogischen Teil heraus)!

Zum anderen, und dies ist die eigentlich inhumane Funktion, die unser Schulsystem als heimliches (oder bei Zynikern auch: offenes) Ziel verwirklicht, muß die sogenannte Leistungsgesellschaft reproduziert werden. Schule ist die unter dem Schein der Gerechtigkeit (jeder Mensch trägt den Marschallstab seit der 1. Klasse im Tornister)ihre Absolventen auf die Sonnen- oder Schattenseite des Lebens verteilende Institution. Das läuft über das Notensystem und Zeugnisse. Dies ist das eherne Gesetz der Klassenschule, das letztlich allen pädagogischen Anstrengungen eine Grenze setzt. Zwei Tendenzen verhindern ein klares Bewußtsein über diese Grausamkeit. Viele LehrerInnen sind wirkliche PädagogInnen und versuchen ihre privaten humanen Intentionen zu verwirklichen. Unter Resignation oder Magengeschwüren, aber im Einzelfall durchaus erfolgreich erziehen sie gegen das System. Daß der Beruf "LehrerIn" so schwierig uned mühsam ist, liegt an dieser Diskrepanz zwischen pädagogischem Anspruch und systembedingter Hinrichtung durch die Zensuren. Dumme oder systemtreue "PädagogInnen" bemerken diese Diskrepanz wahrscheinlich überhaupt nicht. Das nervige Geschäft fortschrittlicher PädagogInnen dagegen besteht im dauernden Unterlaufen und Bekämpfen des Prinzips "die Guten ins Töpfchen, die schlechten in die Lohnabhängigkeit / Arbeitslosigkeit". Die zweite verdunkelnde Tendenz ist eine Art offizieller Pädagogik-Reklame, eine Täuschung der Öffentlichkeit durch bildungspolitische Sonntagsreden. Die Gefahr wäre einfach zu groß, wenn man das Ziel "Schule soll die Klassengesellschaft reproduzieren" offen ausspricht. Obgleich bei ehrlichem Nachdenken dies jeder zugeben müßte, findet es sich in keiner Lehrplanpräambel, in keinen Richtlinien für Erziehung und Unterricht und in keiner bildungspolitischen Verlautbarung. Das hat gravierende Folgen für das offiziöse, systemtragende Nachdenken über "Bildung 2OOO" (in Hamburg und anderswo). Schaut mensch nämlich in sozial- oder christdemokratische Zukunftspläne, so fällt einem eine eigenartige Diffusität, ein Sammelsurium von Halbheiten und Hilflosigkeiten auf: SchülerInnenströme und Struturwandel, Elternwille und Schulentwicklung, offener Unterricht, Projektmethode, Community Education, ein- oder zweigliedriges Schulsystem, informationstechnische Grundbildung, Integration behinderter Kinder usw. Nichts gegen Bearbeitung von Detailproblemen. Viele davon sind wichtig und richtig. Aber mit der Krise des derzeitigen Schulsystenms, die plastisch als "Tollhaus Schule" sich ausdrückt, hat das alles wenig zu tun und entsprechend auch kaum etwas mit "Bildung 2OOO". Daß systemtreue Schulpolitik, egal welcher parteipolitischer Couleur, den Dingen nicht auf den Grund geht, liegt daran, daß sie von sogenannten Sachzwängen ausgeht. Sie fragt nicht allein danach, was nach pädagogischen Maßgaben für unsere SchülerInnen sinnvoll und notwendig ist. Sie hat kein humanes Leitziel, sondern läßt sich ihr Nachdenken und Handeln eintrüben von ausbildungspropädeutischer Funktion (Adaption an Wirtschaftsinteressen) und Aussiebungsfunktion (Reproduktion der Klassengesellschaft). Beiden außerpädagogischen Steuerungsimperativen erteilen wir eine klare Absage bei unserer Maßgabe "Hedonistische Endzeitdidaktik".

Ersichtlich gehen wir bei unserem Nachdenken und unseren Vorschlägen von der SchülerInnenkritik "Schule wird unseren Zukunftsinteressen nicht gerecht" aus. Bei aufmerksamem Hinhören bemerkt man sofort, wogegen sich die SchülerInnenkritik wesentlich richtet: gegen den Stoff. Die vermittelten Inhalte - so die SchülerInnen - bereiten in keiner Weise auf die Zukunft vor. Weder ausbildungspropädeutisch, noch existenziell/politisch. Daß aus Jugendlichenperspektive beides zusammengeht, ist völlig legitim. Aber es ist eben auch ein wirkliches Zusammengehen und keine Addition, bei der der zweite Teil wegfallen könnte: "Wir wollen für die Anforderungen der modernen Arbeitswelt funktionsgerecht ausgebildet werden. Aber gleichermaßen wollen wir auch gebildet werden zu Menschen, die selbstbestimmt in einem handelnden und kämpfenden Kollektiv die drängendsten Epochenprobleme mit lösen helfen."

Nun muß mensch sich allerdings fragen, ob die Bildungsinhalte eigentlich jemals diesem Anspruch genügt haben. Oberflächlich gesehen hat die Schule der fünfziger und frühen sechziger Jahre wohl ihre ausbildungspropädeutische und existenziell/politische Aufgabe erfüllt. Das volkstümliche, das realienbezogene und das humanistische Curriculum haben jedenfalls nicht in Frage gestanden. Aber letzteres ist wichtig: es gab keine Fragewürdigkeit. Wahrscheinlich würde eine genaue Analyse der damaligen Lehrpläne jedoch ergeben, daß von sinnvoller und humaner Vorbereitung auf das Leben kaum gesprochen werden kann. Das ist aber nicht aufgefallen, weil Schule ja primär gar nicht diese Funktion hat, sondern den Zertifikatsvergabeprozeß organisiert, der darüber entscheidet, ob man auf der Sonnen- oder Schattenseite zu stehen hat. Die Inhalte und Stoffe, die dem Zweck einer Auslese dienen, sind diesem Zweck äußerlich und letztlich beliebig. Da aber in der Restaurationsphase der BRD auf jedes Abschlußzertifikat hin eine an materiellen Maßstäben gemessen befriedigende Zukunftsperspektive erreichbar war, konnte die Frage nach Sinn und Unsinn der Lerninhalte kaum auftreten. Sie war durch die gute Wirtschaftslage verdeckt. Außerdem hatte sich die (welt)politische Problemlage noch nicht verdichtet. Das ist heute anders. Die gegenwärtigen drängenden Epochenprobleme und darunter besonders das Problem der Massenarbeitslosigkeit auf Dauer (abgekürzt formulierbar als "Problem der Zweidrittelgesellschaft") lassen unsere Jugendlichen und uns als fortschrittliche PädagogInnen die Frage nach sinnvollem und humanem Lernen unabweisbar stellen: Das aber ist die Frage nach den rechten Lerninhalten, nach dem Curriculum der Zukunft. Unsere Haupteinschätzung, unsere Hauptvoraussetzung hinsichtlich der gegenwärtigen Bildungskrise und einer fortschrittlichen Bildungskonzeption ("Bildung 2OOO") als Lösung lautet also: Das Zentralproblem ist das Curriculum, sind die Bildungsinhalte. Ihnen muß unser theoretisches und planendes Bemühen gelten. Jede schulorganisatorische oder methodische Reform ist nicht radikal genug und wird den Schrecken ohne Ende nur mildern. Oder schlimmer noch: ihn durch kosmetischen Schein verfestigen.

Das alternative Curriculum als Kern der inneren Schulreform

Ob wir uns irgendwelche Reader zur Schule der Zukunft anschauen, oder neue Rahmenrichtlinien - eine gründliche Analyse der Lehrinhalte findet nicht statt. Leider ist auch dieser kritische Reader, da er sich auf die sozialdemokratischen Vorgaben bezieht, eingebunden in eben diesen Rahmen. Nichts gegen die Stichworte: Friedenserziehung, Demokratische Erziehung, offener Unterricht, Projektunterricht, Reform der Sonderpädagogik, Schule im Stadtteil, Gesamtschule als Regelschule der Zukunft, Kollegschule usw. Aber alle diese Reformbestrebungen, insbesondere die "inneren" erzeugen letztlich nur das berühmte Bauchschmerzen, das entsteht, wenn mensch gute Inhalte zusätzlich in die Schule hineinbringt. "Ich habe so viele gute Ansätze, Unterrichtsideen, Einheiten, Projekte.... Aber wenn ich mir dann meinen Alltag angucke, wie wenig ich davon realisieren kann!" Diese Situation gilt bekanntlich mehr für GymnasiallehrerInnen (insbesondere in der Sek II), weniger für HauptschullehrerInnen. Denn die Aussiebefunktion kann dort, wo die Verurteilung durch die Laufbahn "Hauptschule" schon vollzogen ist, ja straflos vernachlässigt werden. Wahrscheinlich verdankt sich der Projektboom und die Bevorzugung des offenen Unterrichts eher den Anstrengungen fortschrittlicher KollegInnen, das sinnleere offizielle Curriculum wenigstens teilweise durch Hineinnahme anderer Inhalte zu unterlaufen. Dann wäre die Sicht des Projektunterrichtes als schülerInnenfreundliche Methode ein Selbstmißverständnis. In Wahrheit wäre der Projektunterricht eine praktische Kritik am Lehrplan, eine Hintertür zum Einlassen relevanter Inhalte. Dann wäre aber auch die Betonung des nur Methodischen am Projektunterricht durch die Kultusbürokratie sehr verständlich. Denn unsere herrschenden BildungspolitikerInnen wissen nur zu gut, wie harmlos methodische Neuerungen sind, die das Curriculum unangetastet lassen. Aber, so könnte mensch einwenden, wenn die offiziellen Lehrinhalte veraltet oder gar hinsichtlich der Auslesefunktion sogar beliebig sind, warum sind sie den Herrschenden so wichtig? Sie lassen die Schule verrotten, begnügen sich mit einigen Reförmchen, aber ansonsten ist ihnen der "Tollhaus"zustand egal, solange die Abitursprüfungen funktionieren. Das ist durchaus richtig, aber kein Argument gegen unsere These, daß der Kampf um die Inhalte in erster Linie geführt werden muß. Denn das sinnleere Curriculum erfüllt voll seine Funktion. Bei einem zeitlich begrenzten Stundenrahmen sorgt jeder unsinnige Inhalt dafür, daß relenvante Lerngegenstände nicht in den Unterricht hineinkommen. Ja, mehr noch: offenkundig reaktionäre, primitiv indoktrinierende Inhalte würden Widerstand provozieren. Die Besetzung des Stundenplans mit nur Sinnleerem erfüllt aber die politisch gewünschte schäbige Aufgabe unauffällig.

Um Schule sinnvoll werden zu lassen, muß eine Bildungskonzeption der Zukunft den Lehrplan, also die Bildungsinhalte und Lerngegenstände einer radikalen Kritik unterziehen. Es geht um Entrümpelung von Sinnlosem und Konzentration aufs Wesentliche.

Dies sowohl innerhalb einzelner Schulfächer als auch im Gesamtkanon der Fächer. Einige Gedankenspiele: Wieso eigentlich gibt es bei uns nicht die Fächer "Friedenserziehung" (wie z. B. in Norwegen), "Ökologie", "Rechtskunde", "Erziehungslehre", "Sexualität", "Medizin"? Könnte frau nicht dafür "Mathematik", "Physik", "Chemie" und "Biologie" wegfallen lassen? Warum macht nicht jede SchülerIn ihren FührerInnenschein an der Schule oder lernt ein Musikinstrument? Warum nicht das Fach "Trikont" und "Erdkunde" fällt weg? Wieso eigentlich das Schulfach "Deutsch"? Wieso nicht Kulturtechniken auf der einen Seite und internationale Literatur (bei der die deutsche eine unter vielen ist) auf der anderen? Wohlgemerkt sind dies nur gedankliche Variationen der Umstrukturierung und Umgewichtung. Wir stellen damit keine Thesen zur Diskussion (das machen wir am Schluß mit unserer alternativen Stundentafel). Aber es wird deutlich, daß es auch anders geht. Wir dürfen ja nicht vergessen, daß das Curriculum eine geistige Landkarte für unsere SchülerInnen darstellt. Es brennt sich ihnen über den Weg des heimlichen Lehrplans als das große Kategoriensystem ein, das den Anspruch erhebt, das relevante Problemslösungsinstrument der Menscheit zu sein. Also: Das Gebiet der Mathematik ist ein großes, ein bedeutendes und gewichtiges.

Das der Gesundheit ein winziges. Für unsere SchülerInnen verhalten sich Mathematik und Gesundheit wie die Weltmacht USA und der Zwergstaat Andorra. Religion ist relevanter als Frieden, usw.

Bevor wir unser Alternativcurriculum vorschlagen, müssen wir noch auf einen naheliegenden Einwand eingehen.

Offensichtlich ist den Herrschenden an einer Änderung nicht gelegen und sie werden weder durch den SchülerInnenunmut noch durch Wirtschaftsdruck (der sich aber eh nur auf ausbildungspropädeutischen Modernitätsrückstand bezieht, wie wir gesehen haben) genötigt. Was soll das dann? Sollten wir uns nicht auf Erreichbares beschränken? Sind wir nicht TraumtänzerInnen?

Diese Fragen sind berechtigt und wir wollen darauf antworten. Unseren curricularen Vorschlag, der von der These ausgeht, die

Revision der Inhalte solle den Kern der inneren Schulreform bilden, machen wir, weil wir meinen, daß er auch den Kern der Sache trifft. Wir sind der festen Überzeugung, daß kein Kultusministerium ihn irgendwie übernehmen wird (daß wahrscheinlich fortschrittliche Kultusbürokraten ihm insgeheim zustimmen, steht auf einem anderen Blatt). Das geht auch gar nicht, weil die Kultusbürokratie als Teil dieses Staates seinen klassenspezifischen Imperativen folgen muß.

Wir stellen mithin als Alternative ein Idealbild auf, das drei Aufgaben hat. Erstens soll es als Gegenmodell die Mißstände kritisch kontrastieren. Aus ihm - so hoffen wir jedenfalls - sollen sich Argumente gegen die marode alte Bildung und für eine sinnvolle und humane Schule der Zukunft ableiten lassen. Zweitens soll es als Leitbild fortschrittlichen KollegInnen helfen, das bestehende System zu unterlaufen. Und drittens wollen wir - dies ist uns am Wichtigsten - ein Terrain besetzen und zugleich ein Kampffeld eröffnen. Schulgeschichtlich ist nämlich der letzte Versuch einer gründlichen Curriculumrevision mit den Hessischen Rahmenrichtlinien gemacht worden. Wir wissen, daß die Konservativen die Schlacht gewonnen haben.

U.E. ist für eine Neueröffnung des politischen Kampfes der Moment günstig, weil die Schule insgesamt in einem desolaten Zustand ist und allerorten die Karten unter dem Stichwort "Zukunft der Bildung" (oder "Bildung 2OOO") neu gemischt werden. Das Curriculum wird - ob man will oder nicht - umstrukturiert werden. Und es wird die Sache fortschrittlicher PädagogInnen sein, dieses Feld nicht IBM und Messerschmidt-Bölkow-Blohm zu überlassen, die hinsichtlich des Raushaltens existenziell-politischer Bildungsinhalte durch Beschränkung auf ausbildungspropädeutische Modernisierung mit der Kultusbürokratie an einem Strang ziehen.

Die Stundentafel nach Maßgabe der Hedonistischen Endzeitdidaktik

Unsere curriculare Alternative bezieht sich auf die Sek I (Klasse 7 - 1O). Dazu machen wir eine Voraussetzung, über die man zwar in Details noch reden kann, aber die wir aufs Ganze gesehen für richtig halten. Wir unterscheiden - auch in unserem heutigen, schlechten Lehrganzen - drei Lernbereiche:

  1. Kulturtechniken / Arbeitstechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen, Informationsbeschaffung...)
  2. Ausbildungspropädeutik (was das Beschäftigungssystem vorgibt)
  3. Bildung (was den Wert in sich selbst trägt, manchmal auch Allgemeinbildung genannt)

Davon sollte in einem sinnvollen und humanen Curriculum der Sek I der Bereich der Bildung den Hauptstellenwert einnehmen, der Bereich der Ausbildungspropädeutik ganz verschwinden und der Bereich des Elementaren abgeschlossen sein. Eine Wochenstunde gestehen wir ihm zwecks Festigung und Ausbau zu. Wie begründen wir die Löschung zweier Lernbereiche?

Betrachten wir zunächst einmal eine durschnittliche Hauptschulklasse. Ehrliche KollegInnen geben auf Nachfragen schnell zu, daß in der Hauptschule in den letzten drei Jahren (Klasse 7 - 9) nichts rechtes mehr gelernt wird. Noch soviele Rechtschreibübungen oder Rechenaufgaben wiederkäuen quälend das erreichte Niveau, bringen aber keine nennenswerten Lernzuwächse. Man könnte im Grunde die Kinder in die Arbeitswelt entlassen, aber eine Arbeitsschutzgesetzgebung verhindert das. Im 19. Jahrhundert hatte ja der Staat herausgefunden, daß Kinderarbeit eine langfristige Auswertung der Arbeitskraft entscheidend beeinträchtigt. Der Jugendliche muß genügend ausgewachsen sein, damit er das Joch der Lohnabhängigkeit so lange wie möglich tragen kann. Hartmut von Hentig hat auf diese schlichte Aufbewahrungsfunktion der Schule (wenn auch nicht mit der ausbeutungsökonomischen Pointierung) des öfteren aufmerksam gemacht. Angesichts aktueller Dauermassenarbeitslosigkeit kommt noch die Aufbewahrungsvariante hinzu, den Arbeitsmarkt zu entlassen. Wichtig in unserem Zusammenhang ist dabei allein das nüchterne Resultat: Hinsichtlich der elementaren Fertgkeiten, der Kulturtechniken könnte man den Laden nach der 6. Klasse dichtmachen. Realistisch arbeitende HauptschulkollegInnen lassen derartige ausbildungspropädeutische Quälereien (natürlich sind die Kulturtechniken in allgemeiner Hinsicht Ausbildungspropädeutik!), auch wenn die Handwerkskammer periodisch noch so sehr über mangelhafte Rechtscheib- oder Rechenkenntnisse klagen. Hinsichtlich des Auslesewettbewerbs bringt das eh nichts und das Machbare ist geleistet. Stattdessen unterlaufen sie das Curriculum und wenden sich sinnvollen und humanen Inhalten zu. Bildungsforscher registrieren denn auch in Hauptschulen das geringste Ausmaß an Schulunzufriedenheit.

Und der zweite Lernbereich, die sogenannte Ausbildungspropädeutik? Sie macht u.E. in der Schule überhaupt keinen Sinn. Ob freilich das Curriculum überhaupt jemals seit Beginn eines öffentlichen Schulwesens wirklich diese Funktion gehabt hat, steht sehr in Frage. Ob der volkstümliche Kanon in den fünfziger Jahren in ausbildungspropädeutischer Perspektive den Anforderungen von Handarbeit genügen konnte? Halten wir die Berufe eines Bauern, eines Maurers und eines Fließbandarbeiters der Automobilbranche nebeneinander... Ebenso fraglich ist für den angesprochenen Zeitraum der behauptete Bezug der Realschule zu kaufmännischen und dienstleistenden Berufen, wie zwischen humanistischer Gymnasialbildung (mit Griechisch und Latein) zur z.B. universitären Medizinerausbildung. Unsere obige grundsätzliche Überlegung von der die Relevanzfrage nach den Inhalten verdeckenden Sicherheit der Arbeitsplätze läßt eher die Vermutung aufkommen, mit der ausbildungspropädeutischen Funktion der Schule sei es nie weit hergewesen. Es habe sich eher um eine Schimäre gehandelt, deren Aufgabe es war, über das Primat der Reproduktion der Klassengesellschaft hinwegztäuschen. Der Grund für den Nichtzusammenhang von Bildungssystem und Beschäftigungssystem ist leicht auszumachen: In modernen (Industrie)gesellschaften verhindert der Grad der Arbeitsteilung, d.h. der Spezialisierung in viele verschiedene Berufe den Bezug beider. Nun nimmt aber die Arbeitsteilung und Spezialisierung immer mehr zu. Folglich sind Bildungssystem und Beschäftigungssystem immer weniger über eine ausbildungspropädeutische Schiene zu verbinden. Auch das Fach Arbeitslehre kann dies nicht. Wie gering etwa sind die Gemeinsamkeiten eines Diätkoches in einem Krankenhaus und eines Koches in einem Spezialitätenrestaurant! Dabei handelt es sich um einen Beruf! Zwei weitere Hinweise für das besagte Auseinanderdriften: Zum einen ist inzwischen Gemeingut des allgemeinen Bewußtseins, daß ein Berufswechsel bzw. periodische Arbeitslosigkeit zur Normalität des Erwerbslebens gehören. Zum anderen nimmt das betriebsinterne Ausbildungswesen immens zu.

Nachdem wir nun gezeigt haben, daß der Riß zwischen Ausbildungs- und Beschäftigungssystem (gleichgültig,ob es ein goldenes Zeitalter des Konnexes gegeben hat oder nicht)unkittbar immer weiter wird,können wir dazu übergehen, aus der curricularen Not eine Tugend zu machen.

Als Maßgaben für eine radikale Curriculumrevision in humaner Perspektive - wir können auch sagen in pädagogischer Perspektive - schlagen wir zwei Grundsätze vor, welche die Hedonistische Endzeitdidaktik ausmachen. Dabei handelt es sich nicht etwa um eine Neukonstruktion, der wir zu folgen unseren KollegInnen anraten. Vielmehr glauben wir, mit den Maßgaben unserer Didaktik das in einer Formel zu bündeln, was fortschrittliche KollegInnen im alltäglichen Unterlaufen des staatlichen Leerplanes immer schon machen. Und aus dieser Formel leiten wir dann einen neuen Lehrplan ab, wie er sich unseres. Erachtens aufdrängt.

Zunächst die Formel der Hedonistischen Endzeitdidaktik:
1. Schulisches Lernen muß ansetzen an den gegenwärtigen Epochenproblemen (Militarisierung - rasanter, interessegeleiteter Technologieschub - Arbeitslosigkeit und neue Armut - Umweltkatastrophen - Massenverelendung und Faschisierungstendenzen besonders im Trikont...) und zum Eingreifen befähigen (Endzeitaspekt).
2. Wenn SchülerInnen lernen sollen, sich nicht die Butter vom Brot nehmen zu lassen, müssen sie wissen, wie gut ein Butterbrot schmeckt. Unterricht muß daher zugleich das Erfahren und Lernen von Lebensqualität sein, damit SchülerInnen mehr vom Leben verlangen als McDonalds, Dallas und fremdbestimmte Arbeit (hedonistischer Aspekt).

Es ist sofort deutlich, daß der hedonistische Aspekt, also die Modellierung des Bedürfnissystems (oder auch das Beschäftigung mit den eigenen Wertorientierungen) in dem gegenwärtigen Lehrplan kaum Platz hat. Der Bereich des ästhetischen Lernens rückt also aus der Nische kompensatorischer Nebenbedeutung heraus. Und - aber genug erläuternder Worte. Unsere Stundentafel macht (hoffentlich) von selbst klar, wo es hingehen soll.

Wir gehen aus von 3O Wochenstunden.
14 Stunden Ästhetik (darunter 2 Stunden Weltliteraturunterricht; darin u. a. enthalten Musik, bildende Kunst, Artistik, Ballet, Werken, Theaterspielen)
4 Stunden Arbeitslehre (Konkretisierung s. den Beitrag zum Fach Arbeitslehre in diesem Band) - damit wird Arbeitslehre zum d e m Hauptfach überhaupt!
2 Stunden Geschichte
3 Stunden Fremdsprache (Englisch)
3 Stunden Naturwissenschaft (hierin gehen Physik, Chemie und Biologie auf)
3 Stunden Politik (hierin gehen Politik, Erdkunde und Religion auf)
1 Stunde Festigung und Ausbau von Kulturtechniken

Dieses Curriculum soll aber nicht zum 45 Minuten-Takt-Denken verleiten, sondern womöglich ist Projekt-,Epochal- bzw. fächerübergreifender Unterricht anzustreben.

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